Fünfter Artikel. Der Wille mit seinem moralischen Charakter und die irrende Vernunft.
a) Es scheint, daß der Wille, welcher von der im Irrtume befindlichen Vernunft abweicht, nicht schlecht ist. Denn: I. Die Vernunft ist Regel für das menschliche Handeln, insoweit sie sich ableitet von der ewigen Vernunft. Irrt sie aber, so weicht sie davon ab. Also ist sie da keine Regel und Richtschnur; und der Wille, der von ihr sich entfernt, ist nicht schlecht. II. Augustin (serm. 6. de Verb. Dom. 8.) schreibt: „Das Gebot der niedrigeren Gewalt verpflichtet nicht, wenn es zuwider ist dem Gebote der höheren; wie wenn der Präfekt etwas befehlen würde, was der Kaiser verbietet.“ Die irrende Vernunft aber stellt bisweilen etwas vor, was gegen das Gebot Gottes ist, der die höchste Macht besitzt; also verpflichtet sie nicht. III. Jegliches böse Wollen läßt sich auf eine Gattung der Bosheit zurückführen. Das vom irrenden Verstande abweichende Wollen aber läßt sich auf keine Gattung Bosheit zurückführen. So z. B. würde, wenn die irrende Vernunft sagt, es sei Unzucht zu treiben, das Wollen dessen, der keine unzüchtige Handlung begehen will, keiner einzigen Gattung von Bosheit zuzulegen sein. Auf der anderen Seite ist das Gewissen (I. Kap. 79, Art. 13.) nichts Anderes als die Anwendung des Wissens auf eine bestimmte Thätigkeit. Das Wissen aber ist innerhalb der Vernunft. Der von der irrenden Vernunft abweichende Wille also ist gegen das Gewissen. „Alles aber, was nicht aus dem Glauben“ d. h. aus dem Gewissen kommt und diesem gemäß geschieht, „ist Sünde“, heißt es Röm. 14. Also der von der irrenden Vernunft abweichende Wille ist Sünde.
b) Ich antworte, daß, da das Gewissen eine etwelche Anordnung der Vernunft ist, — denn es ist die Anwendung des bestehenden Wissens auf eine besondere Thätigkeit — die gestellte Frage ganz die nämliche ist als wenn gefragt würde, „ob das irrende Gewissen verpflichte.“ In dieser Frage nun haben manche Gelehrte drei Arten von Handlungen unterschieden. Die einen von den moralischen Handlungen nämlich sind ihrer ganzen Art nach „gut“; die anderen sind ihrer Art nach weder gut noch schlecht, also indifferent; andere endlich sind ihrer Art nach schlecht. Sie sagen nun, das Gewissen verpflichte nicht, wenn es irrend zu thun vorschreibe, was von sich aus seiner ganzen Art nach schlecht ist; oder umgekehrt befehle, das zu vermeiden, was von sich aus gut ist. Schreibe aber das Gewissen etwas vor mit Rücksicht auf das, was seiner Art nach weder gut noch schlecht ist, also z. B. einen Strohhalm von der Erde aufheben; — so ist der Wille, der von einem solchen wenn auch irrtümlichen Gewissen abweicht, schlecht. Dies Alles ist aber gegen die Vernunft gesagt. Denn mit Rücksicht auf das, was weder gut noch schlecht ist, wird der Wille, welcher vom irrenden Gewissen abweicht, allerdings gewissermaßen schlecht auf Grund des Gegenstandes, von dem die Güte oder die Bosheit des Willens abhängt; — nicht jedoch auf Grund der Natur dieses Gegenstandes, sondern weil derselbe in einer für denselben zufälligen Weise von der Vernunft als etwas Gutes oder als etwas Übles erfaßt wird, geeignet, zum Thun anzuregen oder zum Meiden. Und weil der Gegenstand des Willens das ist, was von seiten der Vernunft vorgestellt wird, wie aus Kap. 8, Art. 1 erhellt, deshalb nimmt der Wille den Charakter des „Schlechten“ an, wenn er auf etwas sich richtet, was von der Vernunft als schlecht oder als Übel vorgestellt wird. Das ist aber nicht allein der Fall mit Rücksicht auf das Indifferente, sondern auch mit Rücksicht auf das an sich Gute oder Böse. Denn nicht allein, was an sich indifferent ist, kann den Charakter des Guten oder des Bösen als etwas zu ihm Hinzutretendes annehmen, sondern auch was an sich etwas Gutes ist kann den Charakter des Bösen annehmen und umgekehrt, auf Grund der Auffassung der Vernunft. So z. B. ist die Enthaltsamkeit von der Unzucht etwas an sich Gutes. Auf dieses Gute aber richtet sich nicht der Wille, außer insoweit es von der Vernunft vorgelegt wird. Wird also dies als ein Übel vorgestellt von der irrenden Vernunft, so wird der Wille sich darauf als auf etwas Böses richten und sonach schlecht sein. Nicht zwar wird er schlecht sein, weil er sich auf etwas Schlechtes von der Seite her richtet, von wo her es an und für sich schlecht ist; — sondern er wird erstreben das was nach der Auffafsung der Vernunft als schlecht sich darstellt, was also durch das Hinzutreten nur der vorliegenden vernünftigen Auffassung, und somit per accidens schlecht ist. Ähnlich ist es an und für sich ein Gut und es ist zum Heile notwendig, an Christum zu glauben. Der Wille aber richtet sich nur insoweit darauf, als es von der Vernunft vorgestellt wird. Wird es also von der Vernunft als etwas Übles vorgestellt, so richtet sich der Wille darauf wie auf ein Übel; nicht als ob es in sich ein Übel wäre, sondern weil vermittelst der Auffassung der Vernunft dazu ein Übel hinzugetreten, und somit für den betreffenden Gegenstand von etwas ihm Äußerlichen her ein Übel mit ihm verbunden ist. Deshalb muß man sagen, daß jegliches Wollen, welches von der Vernunft, mag dieselbe recht sein oder irren, abweicht, immer schlecht ist. Und demgemäß sagt Aristoteles (7 Ethic, 1. et 2.), daß von sich selber aus, per se, der Natur der Sache nach, jemand maßlos ist, der nicht der rechten Vernunft folgt; er ist aber mit Rücksicht auf etwas Äußerliches, auf Grund eines äußeren Umstandes, per accidens, maßlos, wenn er nicht der falschen Vernunft folgt; — im ersten Falle nämlich ist der Grund des guten Handelns in ihm, aber er folgt ihm nicht; im zweiten Falle ist der Grund zum irrtümlichen Handeln in ihm, aber er folgt einem gegenteiligen äußeren Antriebe und handelt somit ebenfalls schlecht.
c) I. Die irrende Vernunft stellt ihr Urteil als wahr vor und somit als von Gott her abgeleitet. II. Das Wort Augustins geht davon aus, daß jemand das Urteildes Kaisers als dem des Präfekten widersprechend kennt. Glaubte jedoch jemand, das Gebot des Präfekten sei das des Kaisers, und würde zuwiderhandeln, so würde er dem Kaiser gegenüber unbotmäßig sein. Ähnlich, wenn jemand weiß, seine Vernunft ordne an gegen das Gesetz Gottes, so dürfte er der Vernunft nicht gehorchen; die allerdings dann nicht ganz und gar irren würde. Stellt aber die Vernunft etwas vor als Gebot Gottes, so bliebe es ganz das Gleiche, das Gesetz Gottes verachten wie das der Vernunft. III. Faßt die Vernunft etwas als Übles auf, so thut sie dies immer unter irgend welchem Gesichtspunkte; nämlich weil es dem göttlichen Gesetze zuwider ist oder weil es ein Ärgernis wäre oder weil es dem Körper schadete und ähnlich; und auf die entsprechende Gattung des Bösen läßt sich zurückführen in diesem Falle der böse Wille.
