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Ich glaubte zwar, Geliebte, euch lästig zu sein, weil ich meiner Rede jedesmal einen schärferen Stachel gebe, und ihr könntet meinen, daß ich einen zu großen Freimut zeigte, der einem Gaste und einem Manne, der mit den gleichen Fehlern behaftet ist, nicht ansteht. Allein euch hat der Tadel zum Wohlwollen gestimmt, und die Wunden, die euch meine Zunge geschlagen, haben euch zu einem innigeren Verlangen entflammt. Keineswegs auffallend! Ihr seid ja weise in geistlicher Beziehung. „Tadle den Weisen, und er wird dich lieben1“, sagt Salomon irgendwo in seinen Schriften. Deshalb, Brüder, kam ich auch jetzt zu derselben Vermahnung, um euch, so gut ich dazu imstande bin, von den Fallstricken des Teufels fernzuhalten.
Geliebte! Einen schweren und mannigfaltigen Krieg führt der Feind der Wahrheit tagtäglich wider uns. Er geht gegen uns vor, wie ihr wißt, indem er unsere Begierden zu Geschoßen gegen uns macht und von uns immer wieder Kraft entlehnt, um uns zu schaden. Der Herr hat ja wohl die Hauptmacht des Teufels durch unauflösliche Gesetze gefesselt und ließ ihn nicht mit einem Ansturme das Menschengeschlecht von der Erde vertilgen; aber eben deshalb stiehlt sich jetzt der Mißgünstige den Sieg über uns auf Grund unserer eigenen Torheit. Böse, habsüchtige Menschen, deren Tun und Treiben auf Bereicherung durch fremdes Gut abzielt, die aber dies Ziel mit offener Gewalt nicht erreichen können, pflegen an den Wegen aufzulauern, und wenn sie in der Nähe eine Stelle finden mit tiefen Schluchten oder dichtem Baumbestand, verstecken sie sich dahin und S. 344 entziehen sich hinter solcher Deckung dem Blicke der Wanderer, fallen dann auf einmal über diese her, die ja die gefährlichen Fallstricke nicht zeitig sehen konnten. So verbirgt sich ja auch unser Widersacher und Feind von alters her, der Teufel, unter dem Schatten der weltlichen Genüsse, die auf dem Wege dieses Lebens von Natur wie geschaffen sind, den Räuber zu verbergen und den Nachsteller unsichtbar zu machen; eben da legt er uns Ahnungslosen die Fallstricke des Verderbens.
Wir müssen, wollen wir den vor uns liegenden Lebensweg sicher bis zum Ende gehen, Seele und Leib zugleich frei von schmachvollen Wunden Christo darstellen und, wollen wir die Siegeskronen erlangen, stets wachsam das Auge unserer Seele nach allen Seiten wenden, alles Reizende für verdächtig ansehen und schnell daran vorbeigehen, dürfen an nichts das Herz hängen, selbst wenn das Gold haufenweise daläge, und man nur die Hände darnach auszustrecken brauchte — „denn wenn der Reichtum herbeiströmt,“ spricht der Psalmist, „hänge das Herz nicht daran2.“ Wir dürfen uns nicht fesseln lassen, auch wenn die Erde alle Lust erzeugte und prächtige Paläste anböte — denn „unser Wandel ist im Himmel, woher wir auch den Heiland, Christum, erwarten3“ —, auch nicht, wenn Tänze, Schmausereien, Trinkgelage, Mahlzeiten und Flötenspiel uns einlüden — denn „Eitelkeit der Eitelkeiten“, heißt es, „alles ist Eitelkeit4“ —, auch nicht, wenn sich schöne Leiber mit schlechten Seelen darin anböten — denn „vor dem Angesichte eines Weibes fliehe wie vor dem Angesichte einer Schlange!“ sagt der Weise5 —, auch nicht, wenn Macht und Herrschaft, Scharen von Trabanten und Schmeichlern, selbst ein erhabener, glänzender Thron, dem Völker und Städte willig sich fügten, in Aussicht stände — denn „alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume; das Gras verdorrt, und die Blume fällt ab6.“ Unter all diesen Gütern lauert ja der gemeinsame Widersacher S. 345 und wartet, ob wir nicht einmal, von ihrem Anblicke gelockt, den rechten Weg verlassen und in seinen Hinterhalt geraten. Ja, es ist sehr zu befürchten, wir möchten einmal unvorsichtig uns nähern und in der Meinung, im Genusse des Vergnügens liege nichts Schädliches, die im ersten Genusse verborgene Angel der Arglist verschlucken und, durch sie dann teils freiwillig, teils unfreiwillig an diese Dinge gefesselt, unbemerkt von den Vergnügungen in die schreckliche Herberge des Räubers, in den Tod, geschleppt werden.
