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Der rät sich also am besten, der besonders für seine Seele sorgt und sie allzeit rein und unbefleckt zu bewahren sucht, auf das Fleisch aber, mag es durch Hunger abnehmen oder mit Kälte und Hitze kämpfen oder von Krankheiten geplagt werden oder von irgendeiner Seite her Gewalt erdulden, wenig Rücksicht nimmt und in allen Widerwärtigkeiten mit Paulus klagt: „Wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, so wird doch unser innerer von Tag zu Tag erneuert1.“ Und wenn er Gefahren über sein Leben kommen sieht, wird er sich nicht verzagt zeigen, sondern vertrauensvoll bei sich sprechen: „Wir wissen, daß, wenn dies unser irdisches Zelt abgebrochen wird, wir einen Bau von Gott empfangen, ein Haus, nicht von Hand gefertigt, ein ewiges im Himmel2.“
Will aber jemand auch des Leibes sich annehmen als des einzigen Besitzes, der der Seele notwendig und zum Leben auf Erden behilflich ist, so wird er für dessen Bedürfnisse wenig zu sorgen haben, eben so viel, um ihn zu erhalten und um ihn mit einiger Sorgfalt für den Dienst der Seele gesund zu bewahren, nicht aber, um ihn durch Übersättigung mutwillig werden zu lassen. Sieht er ihn aber einmal flammen vor Begierde nach mehr und Unzuträglichem, so wird er ihm im Tone des Befehles das Wort des Apostels zurufen: „Wir haben nichts hereingebracht in die Welt und können ohne S. 351 Zweifel auch nichts mit hinausnehmen. Haben wir aber Nahrung und Kleidung, so laßt uns damit zufrieden sein3.“ Wenn er das dem Leibe in einem fort vorsagt und zuruft, wird er ihn nicht nur folgsam und stets bereit für die himmlische Reise machen, sondern noch mehr an ihm auch einen Gehilfen zur Erfüllung seiner Aufgaben haben. Läßt er ihn aber übermütig werden und wie ein wildes Tier täglich mit allem Möglichen sich überfüllen, so wird er zuletzt dadurch gewaltsam zur Erde hinabgezogen und in vergeblichem Seufzen daliegen. Und wann er vor den Herrn geführt und nach den Früchten seiner Pilgerschaft auf Erden gefragt wird, und dann keine anzugeben hat, dann wird er lange weinen, in ewiger Finsternis hausen und seine Schwelgerei und Torheit bitter beklagen, in der er die Gelegenheit zur Rettung verpaßte. Allein die Tränen haben dann keinen Wert mehr. „Wer wird in der Hölle dich preisen?“ sagt David4.
