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Doch du nennst dich selbst arm; und ich gebe dir recht. Denn arm ist, wer viele Bedürfnisse hat. Die Unersättlichkeit der Begierde aber macht anspruchsvoll. Zu den zehn Talenten suchst du noch weitere zehn hinzuzufügen; sind es dann zwanzig geworden, so suchst du zu diesen ebensoviele andere, und soviel du immer hinzufügst, du stillst die Begierde nicht, du nährst nur die S. 249 Flamme der Gier. Es ist wie bei den Trunkenbolden: Je mehr Wein man ihnen gibt, desto stärker wird ihr Hang zum Trinken. So verlangen auch die reichen Emporkömmlinge, je mehr sie haben, nach noch mehr und nähren durch den jeweiligen Zuwachs nur immer mehr die Krankheit, so daß ihr Streben ins Gegenteil umschlägt. Denn die vorhandenen Güter, so groß sie auch sind, erfreuen sie nicht so sehr wie die noch fehlenden sie betrüben, nämlich die, die ihnen ihrer Meinung nach noch fehlen; so ist ihre Seele immer im Banne von Sorgen, da sie im Streben nach Reichtum im Wettstreit mit andern liegen. Denn anstatt sich zu freuen und zu denken, daß sie besser gestellt sind als so viele andere, sind sie niedergeschlagen und traurig, weil sie von dem einen oder andern Reicheren in Schatten gestellt werden. Haben sie aber diesen Reichen eingeholt, dann bemühen sie sich alsbald, den noch Reicheren zu erreichen; haben sie dann auch diesen überholt, dann beginnen sie mit einem andern den Wettlauf. Wie diejenigen, die Leitern ersteigen, den Fuß immer auf eine höhere Stufe heben und nicht eher stehen bleiben, als bis sie zuoberst sind, so lassen auch diese Leute vom Streben nach Macht nicht ab, bis sie endlich obenan sind und beim Falle aus der Höhe sich selbst zerschmettern. Den Vogel Seleukis hat der Schöpfer des Weltalls zum Segen der Menschheit unersättlich geschaffen1; du aber hast zum Schaden vieler deine Seele unersättlich gemacht. Was das Auge sieht, begehrt der Habsüchtige. „Das Auge wird nicht satt vom Sehen2, und der Geldgierige nicht satt vom Nehmen. Die Hölle sagt nicht: „Es ist genug3.“ Auch der Habsüchtige sagt niemals: „Es ist genug.“ Wann willst du das Vorhandene gebrauchen? Wann willst du es genießen, der du immer um den Erwerb dich abmühest? „Wehe denen, die Haus an Haus reihen, Acker an Acker fügen, um dem Nächsten etwas zu nehmen4.“ Du aber, was tust du? Suchst du nicht S. 250 unter tausend Vorwänden das Vermögen des Nächsten an dich zu raffen? Das Haus des Nachbars steht mir im Lichte, heißt es, ist geräuschvoll, es beherbergt Landstreicher, oder was man sonstwie an Anklagen findet, um den Nachbarn zu beunruhigen und zu vertreiben. Man hört nicht eher auf, an ihm herumzuzerren und ihn zu necken, als bis man ihn soweit gebracht hat, daß er seine Wohnung wechselt. Was hat dem Jezraheliten Naboth das Leben gekostet? Nicht Achabs Begierde nach dessen Weinberg5? Der Habsüchtige ist ein schlimmer Nachbar — in der Stadt wie auf dem Lande. Das Meer kennt seine Grenzen; die Nacht geht nicht über ihr einmal gestecktes Ziel hinaus. Der Habsüchtige aber scheut keine Zeit, kennt keine Grenzen, kümmert sich um keine Ordnung und Reihenfolge, sondern ahmt die Gewalttätigkeit des Feuers nach, ergreift alles, verzehrt alles. Wie die Flüsse, erst klein im Ursprunge, dann aber allmählich durch die Zuflüsse so anwachsen, daß ihnen nichts widerstehen kann und sie alles, was in den Weg kommt, gewaltsam mit sich fortreißen, so machen es ähnlich auch die Habsüchtigen: Sind sie einmal zu großer Macht gelangt, und haben sie bereits durch die von ihnen schon Vergewaltigten die Macht zu weiterem, noch größerem Unrecht bekommen, dann machen sie alle mit den zuvor Unterdrückten zu Sklaven, und eine gesteigerte Macht gibt ihnen noch reichere Gelegenheit, Unrecht zu tun. Denn diejenigen, die zuerst ihre schlimmen Erfahrungen gemacht haben, leisten (dem Gewalttätigen) die erzwungene Hilfe, wo es gilt, wieder andere zu schädigen und zu kränken. Wo ist ein Nachbar, wo ein Hausgenosse, der mit ihnen zu schaffen hat, ohne mitfortgerissen zu werden? Nichts widersteht der Gewalt des Reichtums; alles beugt sich seiner Tyrannei; alles zittert vor seiner Macht, weil jeder bereits Geschädigte mehr darauf bedacht ist, nicht noch mehr zu verlieren, als darauf, für das erlittene Unrecht sich zu rächen. Der Reiche führt ein Paar Ochsen herbei, pflügt, sät, erntet, was nicht sein ist. Erhebt man Einspruch, dann gibt es Schläge; beklagt man sich, dann wird man wegen S. 251 Beleidigung angeklagt, als Sklave abgeführt, in den Kerker geworfen; falsche Ankläger sind immer zur Hand, dein Leben in Gefahr zu bringen. Man wird so gern noch etwas opfern, um so der Schikanen überhoben zu sein.
