6.
Ich wünschte, du kämest von den Werken der Ungerechtigkeit ein wenig zu Atem und ließest deiner Vernunft etwas Zeit, zu überlegen, auf was das Streben nach solchen Dingen abzielt. Du hast so und soviel Morgen Ackerland, soviel Baumgüter, Berge, Ebenen, Wiesen, Flüsse, Quellen. Was harrt deiner nach so reichem Besitz? Bleiben dir nicht von all dem nur drei Fuß Erde? Wird nicht die Last weniger Steine ausreichen, dein elendes Fleisch zu verwahren? Wofür mühst du dich ab? Wozu bist du ungerecht? Was sammelst du mit den Händen Unfruchtbarkeit? Ja, wäre es doch nur Unfruchtbarkeit und nicht Stoff fürs ewige Feuer! Wirst du nie nüchtern werden von diesem Rausche? Nie zur Einsicht kommen? Nicht Herr werden über dich selbst? Nicht das Gericht Christi dir vor Augen stellen? Was wirst du zu deiner Verteidigung sagen, wenn die, denen du Unrecht getan, rings um dich stehen und vor dem gerechten Richter ihr Klagegeschrei gegen dich erheben? Was wirst du dann tun, welche Verteidiger dir dingen? Was für Zeugen wirst du stellen? Wie wirst du den unbestechlichen Richter für dich einnehmen? Dort gibt es keinen Redner, keine Überredungskunst mit Worten, um dem Richter die Wahrheit zu verschleiern; dorthin folgen keine Schmeichler, folgt kein Geld, kein Rang, keine Würde. Verlassen von Freunden, verlassen von Gehilfen, wirst du ohne Fürsprache, ohne Verteidiger beschämt dastehen, traurig, niedergeschlagen, vereinsamt, sprachlos. Denn wohin du das Auge wendest, siehst du die deutlichen Zeichen deiner Missetaten: hier die Tränen der Waisen, dort die Seufzer der Witwe, hier die Armen, die du mißhandelt, dort die Knechte, die du gepeitscht, die Nachbarn, die du geärgert hast. Alles wird sich wider dich erheben; der furchtbare Reigen deiner Missetaten wird dich umringen. Denn wie die Schatten den Körpern, so folgen die Sünden den Seelen nach als deutliche S. 252 Schattenbilder verübter Taten. Darum gilt dort kein Leugnen; vielmehr wird auch der ausgelassenste Mund kleinlaut. Die Werke eines jeden geben Zeugnis, ohne zu reden, nur so sich zeigend, wie sie eben von uns vollbracht worden. Wie könnte ich dir das schaurige Drama vor Augen stellen? Wenn du nun hören, wenn du in dich gehen willst, so denk an jenen Tag, an dem „der Zorn Gottes vom Himmel her offenbar wird1“, denk an die glorreiche Ankunft Christi, wo die, die Gutes getan haben im Leben, auferstehen werden zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichtes2. Alsdann harrt der Sünder ewige Schande, und ein „eiferndes Feuer wird die Widerspenstigen verzehren3.“ Diese Dinge sollen dich betrüben; nicht soll das Gebot dich betrüben. Wie soll ich in dir das Schamgefühl wecken? Was soll ich sagen? Verlangst du nicht nach dem Himmel? Fürchtest du die Hölle nicht? Wo läßt sich noch Heilung für deine Seele finden? Wenn das Schauerliche dich nicht schreckt, das Wonnige dich nicht anspornt, so reden wir zu einem steinernen Herzen.
