7.
Wie die Größe Gottes und sein unbegreifliches Wesen weder die oberen noch die unteren Welten fassen, so vermögen andrerseits die Einfachheit Gottes und seine Herablassung zu den Schwachen und Kleinen weder die himmlischen noch die irdischen Welten zu begreifen. Denn wie seine Größe, so ist auch seine Erniedrigung unfaßbar. Kommen etwa gemäß seiner Anordnung Trübsale, Leiden, Bedrängnisse und sonstige, wie du annimmst, widrige Geschicke über dich, so geschieht S. 271 dies im Interesse deiner Seele. Willst du in der Welt sein und reich werden, so begegnet dir alles mögliche Mißgeschick. Du fängst an, bei dir zu denken: Weil ich in der Welt kein Glück habe, gehe ich fort und nehme Abschied [von ihr] und diene Gott. Bist du auf diesem Punkte angelangt, dann vernimmst du das Gebot, das sagt: „Verkaufe was du hast“1, hasse fleischliche Gemeinschaft und diene Gott. Dann fängst du an für das Mißgeschick, das du in der Welt hattest, zu danken, [indem du sprichst]: Ihm verdanke ich es, daß ich [jetzt] gehorsam gegen das Gebot Christi erfunden werde. Hast du nun allmählich, was die Erscheinungsdinge betrifft, deinen Sinn geändert und dich von der Welt und fleischlichen Gemeinschaft losgemacht, so mußt du dich auch, was den Geist anlangt, von fleischlicher Gesinnung zu himmlischer Gesinnung kehren. Dann beginnst du schon beim Hören [des Gebotes] zu unterscheiden, hast keine Ruhe mehr, sondern bist besorgt und bemüht, zu erlangen, was du gehört.
[Forts. v. S. 271 ] Glaubst du, alles getan zu haben, weil du dich selbst verleugnet hast, dann spricht der Herr zu dir: Was rühmst du dich? Habe nicht ich deinen Leib und deine Seele erschaffen? Was hast du getan? Die Seele legt ein Bekenntnis ab, beginnt zum Herrn zu flehen und zu sagen: Alles ist Dein. Das Haus, in dem ich bin, ist Dein. Mein Gewand ist Dein. Von Dir werde ich ernährt, von Dir werden alle meine Bedürfnisse besorgt. Dann beginnt der Herr darauf zu erwidern: Nun hast du meine Huld. Der Besitz ist nun dein. Der gute Wille ist dein [Wille]. Und weil du mich liebst und zu mir deine Zuflucht nahmst, will ich dir jetzt auch das noch geben, was du bisher nicht besaßest und die Menschen auf Erden nicht haben: Nimm mich, deinen Herrn, auf mit deiner Seele, du sollst allezeit mit mir in Freude und Jubel leben.### 9.
Wie ein Weib, das mit einem Manne verlobt ist, all seinen Besitz und seine ganze Mitgift aus großer Liebe hergibt, in die Hände des Mannes legt und spricht: S. 272 Nichts gehört [fürderhin] mir, was ich habe, ist dein; die Mitgift ist dein, meine Seele und mein Leib ist dein, so macht es auch die weise, jungfräuliche Seele gegenüber dem Herrn, die Genossin seines Heiligen Geistes. Allein wie er nach seiner Ankunft auf Erden gelitten hat und gekreuzigt worden ist, so mußt auch du mit ihm leiden. Denn hast du einmal die Welt verlassen und angefangen, Gott zu suchen und zu unterscheiden, so mußt du kämpfen gegen deine Natur, wider die alten Sitten und die dir angeborene Gewohnheit. Und im Kampfe wider die Gewohnheit findest du Gedanken, die dir widerstreben und deinen Geist bekämpfen. Es ziehen und reißen dich die Gedanken [wieder] fort in die Welt, die du verlassen hast. Dann beginnst du den Kampf und Krieg, stellst Gedanken gegen Gedanken, Sinn gegen Sinn, Seele gegen Seele, Geist gegen Geist auf. Übrigens ist hier auch die ewige Seele dabei.### 10.
Es offenbart sich nämlich eine verborgene und feine Macht der Finsternis, die sich im Herzen niedergelassen. Der Herr aber ist deiner Seele und deinem Leibe nahe, er sieht deinen Kampf, gibt dir geheimnisvolle, himmlische Gedanken ein und fängt an, dich im Verborgenen zu erquicken. So läßt er dich, bis du erzogen bist. Aber selbst in den Drangsalen leitet dich die Gnade. Und bist du einmal zur Ruhe gelangt, so gibt sie sich dir zu erkennen und zeigt dir, daß sie zu deinem Besten zuließ, daß du in Zucht genommen wurdest. Der Knabe eines reichen Mannes hat einen Erzieher. Der züchtigt ihn zuweilen mit Riemen. Die Züchtigung, die Wunden und die Schläge erscheinen [ihm] hart, solange, bis er „ein Mann geworden ist“2. Dann aber fängt er an, dem Erzieher zu danken. So züchtigt dich auch die Gnade in weiser Absicht, bis du „zur vollen Mannesreife gelangt bist“3.
