V. Kapitel: Von Sabinus, dem Bischof von Canosa
Einige fromme Männer nämlich, die in der Provinz Apulien wohl bekannt sind, erzählen von dem Bischof Sabinus von Canosa1 gern das Folgende, das weit und breit vielen zur Kenntnis gekommen ist. Dieser Mann hatte nämlich durch sein hohes Alter das Augenlicht verloren, so daß er gar nichts mehr sah. Der Gotenkönig Totila hörte von ihm, daß er den Geist der S. 114 Weissagung besitze; er glaubte aber nicht daran, sondern suchte, was er gehört hatte, zu erproben. Als er nun in jene Gegend kam, lud ihn der Mann Gottes zum Mittagsmahle ein. Als man zu Tisch ging, wollte sich der König nicht niederlassen,2 sondern saß zur Rechten des ehrwürdigen Mannes. Als nun der Diener wie sonst dem Vater einen Becher Wein darreichen wollte, streckte der König in aller Stille seine Hand aus, ergriff den Kelch und reichte ihn selbst anstatt des Dieners dem Bischof; er wollte sehen, ob dieser mit seinem geistigen Auge unterscheiden könne, wer ihm den Becher reiche. Da nahm der Mann Gottes den Kelch und sagte, ohne zu sehen, wer ihn darbot: „Diese Hand soll leben!” Der König freute sich über dieses Wort und errötete; denn wenn er auch entdeckt wurde, so fand er doch an dem Mann, wonach er suchte. Da sich das Leben dieses ehrwürdigen Mannes in einem langen Greisenalter zum Lebensvorbild für die nachfolgende Generation hinzog, wollte ihn sein Archidiakon mit Gift aus dem Leben schaffen; denn in seinem großen Ehrgeiz wollte er selbst Bischof werden. Er verführte das Herz des Mundschenken, dem Bischof einen Gifttrank zu reichen. Als dann zur Essenszeit der Mann Gottes sich zu Tisch niederließ, reichte ihm der mit Geld bestochene Diener den Giftbecher, den ihm der Archidiakon gegeben hatte. Aber augenblicklich sprach der ehrwürdige Bischof: „Trinke nur du das, was du mir zum Trinken bietest!” Der Diener fing, als er sich entdeckt sah, zu zittern an und wollte lieber, des Todes gewiß, den Trank nehmen, als die Strafe für das große Verbrechen des Mordes ausstehen. Als er schon den Kelch zum Munde führte, hielt ihn der Mann Gottes zurück und sagte: „Trinke nicht! Gib mir den Becher, ich will ihn trinken! Gehe aber hin und sage dem, der ihn dir gegeben hat: ‘Ich trinke das Gift, du aber wirst nicht Bischof werden!’” S. 115 Der Bischof machte das Kreuzzeichen und trank unbekümmert das Gift. Zur selben Stunde aber starb der Archidiakon an einem andern Orte, wo er sich gerade befand, wie wenn das Gift durch den Mund des Bischofs in die Eingeweide des Archidiakons gedrungen wäre. Es war zwar bei ihm körperlich kein todbringendes Gift vorhanden, aber es tötete ihn im Angesichte des ewigen Richters das Gift seiner Bosheit.
Petrus. Das ist wunderbar und für unsere Zeit höchst überraschend; aber man schildert das Leben dieses Mannes derart, daß diejenigen, die seinen Wandel gesehen haben, über seine Wunderkraft nicht staunen dürfen.