XXVI. Kapitel: Von dem Einsiedler Menas1
Noch vor nicht langer Zeit lebte in der Provinz Samnium ein ehrwürdiger Mann namens Menas als Einsiedler. Er war vielen von uns bekannt und starb vor ungefähr zehn Jahren. Wenn ich seine Taten erzähle, führe ich nicht einen einzelnen Gewährsmann an; denn ich habe für sein Leben alle zu Zeugen, welche die Provinz Samnium kennen. Menas also besaß für seinen Bedarf nichts anderes als einige wenige Bienenstöcke. Als nun einmal ein Langobarde diese Bienenstöcke berauben wollte, wurde er zuerst von dem Manne zurechtgewiesen und kurz darauf von einem bösen Geiste S. 156 so gepeinigt, daß er sich zu seinen Füßen wälzte. Die Folge davon war, daß sein Name nicht bloß bei den Einheimischen, sondern auch bei dem Barbarenvolke sehr zu Ehren kam und daß man nur mehr in aller Demut seine kleine Zelle zu betreten wagte. Aber oft kamen Bären aus dem benachbarten Walde, um die Bienenstöcke zu leeren; er aber machte sich über sie her und schlug sie mit einer Gerte, die er in der Hand zu tragen pflegte. Die wilden Bestien brummten und flohen vor seinen Schlägen, und die sonst kaum vor einem Schwert erschraken, fürchteten die Gertenhiebe von seiner Hand. Sein Bestreben ging dahin, nichts in dieser Welt zu besitzen, nichts zu suchen und alle, die aus Liebe zu ihm kamen, zur Sehnsucht nach dem ewigen Leben zu entflammen. Sah er zuweilen Fehler an ihnen, so sparte er nicht mit Vorwürfen, sondern wies sie, vom Feuer der Liebe getrieben, mit sehr ernsten Worten zurecht. Die Nachbarn und selbst solche, die weiter entfernt wohnten, hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, daß ihm jeder an einem bestimmten Tage der Woche eine Gabe sandte, damit er seinen Besuchern etwas vorsetzen konnte. Einmal nun entführte ein Gutsbesitzer mit Namen Carterius in unreiner Begier eine gottgeweihte Jungfrau und ging mit ihr eine unerlaubte Ehe ein. So wie der Mann Gottes davon erfuhr, ließ er ihm bei jeder Gelegenheit den verdienten Tadel aussprechen. Dieser aber fürchtete sich in seinem Schuldbewußtsein und wagte es nicht, zum Mann Gottes zu gehen, damit er ihn nicht, wie er dies Sündern gegenüber zu tun liebte, hart anfahre. Er gab sein Geschenk, überschickte es aber mit den Gaben der anderen, damit Menas wenigstens sein Geschenk, wenn auch ohne Wissen, in Empfang nehmen sollte. Als nun die Gaben gemeinsam vor ihn gebracht wurden, saß der Mann Gottes schweigend da und betrachtete alles einzeln genau. Er suchte die Gaben der anderen alle heraus und legte sie zur Seite, durch Gottes Geist S. 157 aber erkannte er die Gaben des Carterius, warf sie verächtlich weg und sagte: „Gehet und saget ihm: ‘Dem allmächtigen Gott hast du seine Gabe genommen, und mir willst du Gaben senden? Ich nehme von dir kein Geschenk an, weil du dem Herrn das seinige genommen hast!’” Darob wurden alle Anwesenden von großer Furcht ergriffen, da der Mann Gottes mit solcher Kenntnis über Abwesende urteilte.
Petrus. Ich denke, viele von diesen Männern hätten das Martyrium bestehen können, wenn sie gerade zur Zeit einer Verfolgung gelebt hätten.
Gregorius. Es gibt, Petrus, zwei Arten von Martyrium, ein verborgenes und ein öffentliches. Denn wenn auch äußerlich keine Verfolgung vorhanden ist, so ist doch das Verdienst des Martyriums im Verborgenen da, wenn die Seele zu leiden verlangt. Daß nämlich auch ohne offenbares Leiden ein Martyrium vorhanden sein kann, das bezeugt der Herr im Evangelium, wenn er zu den Söhnen des Zebedäus, die, weil noch schwach in ihrer Erkenntnis, vornehme Sitze begehrten, sprach: „Könnet ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?”2 Als sie ihm dann antworteten: „Wir können es”, sagte er zu ihnen: „Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken, aber das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken euch zu geben, steht mir nicht zu.”3 Was kann aber das Wort Kelch anders bedeuten als Leidensbecher? Und da bekanntlich Jakobus den Martertod starb, Johannes aber zu einer Friedenszeit der Kirche entschlief, so folgt ohne weiteres daraus, daß es auch ein Martyrium ohne offenkundiges Leiden gibt, da es auch von jenem, der nicht durch eine Verfolgung den Tod erlitt, heißt, daß er den Kelch des Herrn trinke. Wozu aber sollen wir sagen, diese früher erwähnten großen, heiligen Männer hätten Märtyrer werden können, wenn sie in einer Zeit der Verfolgung gelebt hätten, da sie doch im Verborgenen die Nachstellungen des bösen Feindes erduldeten, S. 158 ihre Widersacher auf dieser Welt liebten, allen fleischlichen Begierden widersagten, und dadurch, daß sie sich innerlich dem allmächtigen Gott als Opfer darbrachten, Märtyrer auch zur Friedenszeit wurden, während es zu unserer Zeit sogar gewöhnlichen Leuten und solchen, die ein weltliches Leben führten, bei denen man sich scheinbar bezüglich der himmlischen Glorie keiner allzu großen Hoffnung hingeben konnte, geglückt ist, bei gebotener Gelegenheit die Märtyrerkrone zu erlangen?