XXXIII. Kapitel: Von dem Diener Gottes Eleutherius
Der schon genannte Eleutherius,1 Abt des Klosters zum hl. Evangelisten Markus, das in Spoleto an der Stadtmauer liegt, verweilte lange bei mir hier in Rom S. 168 in meinem Kloster und ist dort gestorben. Von ihm erzählen seine Schüler, er habe durch sein Gebet einen Toten erweckt. Er war aber auch ein Mann von solcher Einfalt und Herzenszerknirschung, daß kein Zweifel bestand, die Tränen, die aus so demütigem und einfältigem Herzen kämen, vermöchten viel bei dem allmächtigen Gott. Von ihm nun will ich ein Wunder erzählen, das er mir auf Befragen in Einfalt selbst gestand. Als er sich nämlich eines Tages auf einer Reise befand, begab er sich am Abend, da sonst keine Herberge vorhanden war, in ein Frauenkloster; in diesem Kloster befand sich aber ein kleiner Knabe, den der böse Feind regelmäßig jede Nacht quälte. Gleich beim Empfang baten die Klosterfrauen den Mann Gottes und sagten: „Darf nicht, Vater, der Knabe diese Nacht bei dir bleiben?” Er nahm ihn gütig auf und gestattete ihm, die Nacht bei ihm zu schlafen. Als es nun Morgen geworden war, fragten die Klosterfrauen den Abt eingehend darnach, ob ihm der Knabe in der Nacht etwas getan habe. In Verwunderung über diese Fragen sagte er: „Nein.” Hierauf eröffneten sie ihm, was es mit dem Knaben für eine Bewandtnis habe, und teilten ihm mit, daß der böse Feind keine Nacht von ihm weiche; dringend baten sie ihn, er möge doch den Knaben mit in sein Kloster nehmen, weil sie seine Qualen nicht mehr mit ansehen könnten. Der Greis gab seine Zusage und nahm den Knaben mit in das Kloster. Nachdem dieser sich bereits eine lange Zeit im Kloster aufgehalten und der Urfeind es durchaus nicht wagte, sich ihm zu nähern, wurde die Seele des Greises wegen der Heilung des Knaben von übergebührlich großer Freude erfüllt. Er sagte nämlich in Gegenwart der Brüder: „Brüder, der Teufel hat mit den Schwestern seinen Scherz getrieben; als man aber zu den Dienern Gottes kam, wagte er es nicht mehr, sich dem Knaben zu nähern.” Kaum hatte er das gesagt, da fuhr der Teufel zur selben Stunde und in demselben Augenblick vor den Brüdern in den Knaben und peinigte S. 169 ihn. Als der Greis das sah, fing er an zu jammern und zu klagen. Als er eine gute Weile so trauerte und die Brüder ihn trösten wollten, sprach er: „Glaubet es mir, keinem von euch kommt heute ein Brot in den Mund, bevor nicht der Knabe vom bösen Geiste befreit ist.” Hierauf warf er sich mit allen Brüdern zum Gebete nieder, und man betete so lange, bis der Knabe von seiner Qual genas. Er wurde so vollständig geheilt, daß der böse Feind es nie mehr wagte, sich an ihn heranzumachen.
Petrus. Ich glaube, daß sich bei ihm eine kleine Eitelkeit eingeschlichen hatte, und daß deshalb der allmächtige Gott wollte, seine Jünger sollten ihm bei diesem Werke behilflich sein.
Gregorius. Ja, so ist es; denn weil er allein für sich das Gewicht der Wundertat nicht tragen konnte, mußte er sie mit seinen Jüngern teilen und ertrug sie so. Welche Kraft das Gebet dieses Mannes besaß, habe ich an mir selbst erfahren. Als ich nämlich einmal, während ich noch im Kloster war, schneidende Schmerzen in den Eingeweiden hatte und wegen heftiger Beklemmungen - die Ärzte nennen diese Erscheinung mit einem griechischen Wort Synkope12 - von Stunde zu Stunde dem Ende näher zu kommen schien, da wäre ich wohl gestorben, wenn die Brüder mich nicht oft und oft mit Speise gestärkt hatten. So nahte das Osterfest; und da ich am hochheiligen Karsamstag, an dem alle, sogar die kleinen Kinder fasten, das Fasten nicht halten konnte, nahm meine Schwäche noch zu, mehr aus Traurigkeit als aus Krankheit. Aber mein trauriges Gemüt fand alsbald einen Rat, nämlich jenen Mann Gottes heimlich mit mir in die Kirche zu nehmen und ihn zu bitten, er möge mir vom allmächtigen Gott durch sein Gebet die Kraft erwirken, an diesem Tage fasten zu können. Und so geschah es. Sobald wir in die Kirche kamen, begab er sich, demütig von mir angegangen, unter Tränen ins Gebet und ging, nachdem er eine kleine Weile gebetet S. 170 hatte, wieder hinaus. Auf sein Gebet hin empfing mein Magen eine solche Kraft, daß mir Speise und Krankheit ganz aus dem Sinn kamen. Ich fing an, mich darüber zu verwundern, wie mein Zustand jetzt war und wie er früher gewesen; denn wenn mir meine Krankheit auch einfiel, verspürte ich keine der Erscheinungen mehr, an die ich mich erinnerte. Und da mein Geist sich mit Angelegenheiten der Klosterleitung befaßte, vergaß ich meine Krankheit gänzlich. Wenn mir aber, wie gesagt, die Krankheit einfiel und ich mich so kräftig fühlte, mußte ich mich darüber wundern, daß das sein konnte, ohne daß ich etwas zu mir genommen hatte. Am Abend fühlte ich eine solche Kraft in mir, daß ich das Fasten noch bis zum andern Tag hätte fortsetzen können, wenn ich gewollt hätte. Auf diese Art und Weise habe ich an mir erprobt, daß auch jene Begebenheiten wahr sein müssen, bei denen ich selbst nicht dabei war.
Petrus. Weil du gesagt hast, er habe eine so große Herzenszerknirschung besessen, so möchte ich gerade die Kraft der Tränen näher kennen lernen. Ich bitte dich deshalb, erkläre mir, wieviele Arten von Zerknirschung es gibt.