Sechster Artikel. Man muß in höherem Grade nach der Ergötzung begehren als die Trauer fliehen.
a) Dem entgegen sagt: I. Augustin (83. Q. q. 36.): „Niemand findet sich, der nicht mehr den Schmerz flieht als die Ergötzung begehrt.“ II. Die Einwirkung von seiten des Gegenteils trägt bei zu größerer Schnelligkeit und Kraft der entsprechenden Bewegung; denn „warmes Wasser“ sagt Aristoteles (l Meteor. 12.) „friert stärker ein.“ Das der Trauer eigene Fliehen aber kommt her von dem Einflüsse des Gegenteils, des Betrübenden nämlich, während das Begehren nach Ergötzung aus keinerlei Gegensatz kommt, sondern vielmehr aus der Zukömmlichkeit des Ergötzenden. Also wird die Trauer mehr geflohen wie das Ergötzen begehrt. III. Je stärker die Leidenschaft ist, der jemand gemäß der Vernunft Widerstand leistet, desto lobwerter und tugendhafter ist er; denn „die Tugend beschäftigt sich mit dem Schwierigen und Guten.“ (2 Ethic. 3.) Jener aber, welcher der Bewegung, womit man den Schmerz flieht, widersteht, hat eine größere Tugend, nämlich die der Stärke, wie der Mäßige, welcher der Bewegung widersteht, womit Ergötzliches erstrebt wird. (1 Rhet. 4.) Also die Bewegung des Fliehens vor dem Schmerze ist stärker wie die nach dem Ergötzen hin. Auf der anderen Seite sagt Dionysius (4 de div. nom.): „Das Gute ist kräftiger wie das Böse.“ Das Ergötzen ist nun begehrt auf Grund des Guten, seines Gegenstandes; die Flucht vor der Trauer aber geschieht wegen des Bösen. Also stärker ist das Begehren nach Ergötzen, wie das Fliehen vor der Trauer.
b) Ich antworte, an und für sich, die Natur der Sache betrachtet, ist das Begehren nach Ergötzung stärker wie das Fliehen vor der Trauer. Der Grund davon besteht darin, daß die Ursache des Ergötzens ein Gutes ist, was zukömmlich erscheint; und die Ursache der Trauer ein Übel, was zuwider ist. Nun trifft es sich aber, daß wohl ein Gut zukömmlich sein kann ohne jede Abschwächung; kein Übel aber kann in der Weise zuwider sein, daß nicht etwas Gutes dabei sei. Das Ergötzen kann also vollständig sein und vollendet; die Trauer ist aber nur immer teilweise. Von Natur aus also ist das Begehren nach Ergötzen stärker wie die Flucht vor der Trauer. Ein anderer Grund ist, daß das Gute, was begehrt wird, um seiner selbst willen begehrt wird; das Übel aber als Gegenstand der Trauer wird nur deshalb geflohen, weil es ein Mangel an Gutem ist. Was aber an und für sich, seinem Wesen nach etwas ist, das hat mehr Kraft als was nur mit Rücksicht auf etwas Anderes, per accidens, ist. Das Zeichen davon haben wir auch in den Bewegungen innerhalb der rein natürlichen Dinge vor uns. Denn jegliche Bewegung ist kräftiger gegen das Ende hin, da sie sich nähert dem ihrer Natur vorgesteckten Abschlüsse, wie im Anfange, wo sie sich entferntvon dem, was ihrer Natur nicht entspricht; gleichsam als ob die Natur mehr strebte nach dem ihr Zukömmlichen wie daß sie sich entfernt von dem ihr Widerstrebenden. Also strebt auch die Hinneigung der begehrenden Kraft, an und für sich gesprochen, stärker nach Ergötzen als sie flieht vor der Trauer. Äußerliche, nicht aus der Natur des Begehrens hergenommene Gründe können aber es bewirken, daß jemand mehr vor der Trauer flieht als das Ergötzen begehrt. Dieser Gründe sind drei. I. Auf Grund der Auffassung. Denn „die Liebe“ sagt Augustin (10 de Trin.) „wird mehr empfunden, wenn das Bedürfnis sie offenbar macht.“ Aus dem Bedürfnisse nämlich nach dem geliebten Gute entspringt die Trauer, die da begründet ist im Verluste eines geliebten Gutes oder in der Anwesenheit des entgegengesetzten Übels. Das Ergötzen aber kennt ein solches Bedürfnis nicht, sondern ruht im bereits erreichten Gute. Da also die Liebe sowohl das Ergötzen verursacht wie die Trauer, so wird die letztere um so mehr geflohen, je mehr die Liebe gefühlt wird, weil eben die Trauer da ist. II. Auf Grund der Ursache, welche betrübt oder Schmerz macht, welche dem geliebten Gute mehr widerstreitet als jenes Gut wert ist, in dem wir uns ergötzen. Denn mehr lieben wir die Erhaltung unseres Körpers in seiner natürlichen Zusammensetzung wie das Ergötzen an der Speise. Und deshalb verlieren wir in der Furcht vor dem Schmerze, welcher von Schlägen u. dgl. kommt, wodurch die gute natürliche Zusammensetzung des Körpers gestört wird, die Luft an der Seinschmeckern. III. Auf Grund der Wirkung, wenn nämlich die Trauer nicht ein Ergötzen allein hindert, sondern alle Ergötzungen insgesamt.
c) I. Was Augustinus da sagt ist wahr, wie eben gesagt, per accidens, infolge äußerlicher Verhältnisse. Deshalb fährt er fort: „Bisweilen sehen wir die wildesten Tiere sich enthalten der größten Ergötzungen aus Furcht vor Schmerzen,“ weil also diese letzteren dem Leben widerstreiten, was im höchsten Grade geliebt wird. II. Hier ist anders zu sagen mit Rücksicht auf die Bewegung, die von innen heraus vor sich geht; und anders mit Rücksicht auf die Bewegung, welche von einem außenbefindlichen Einflüsse herrührt. Denn die Bewegung von innen heraus strebt mehr nach dem Zukömmlichen als sie sich entfernt vom Widerstreitenden; wie oben von der natürlichen Bewegung im allgemeinen gesagt worden. Die Bewegung aber, die von außen her kommt, wird kräftiger und angespannter eben infolge des Gegensatzes. Denn Jegliches strengt sich in seiner Weise an, dem ihm Entgegengesetzten zu widerstehen, im selben Grade als es sich selbst erhalten will. Deshalb ist die gewaltsame, also von einem außenbefindlichen Princip kommende Bewegung angespannter im Anfange wie am Ende. Die Bewegung des begehrenden Teiles nun ist von innen heraus, von der Seele zu den Dingen hin; und deshalb wird an und für sich mehr erstrebt das Ergötzliche wie geflohen das Traurige. Die Bewegung des auffassenden Teiles aber ist von außen her, gleichsam von den Dingen zur Seele hin; und deshalb wird hier in höherem Grade das mehr Entgegengesetzte wahrgenommen. Und so ist dies noch ein Grund per accidens, d. h. der nicht von der Natur der begehrenden Kraft herkommt, dafür daß zuweilen der Schmerz mehr geflohen wird wie das Ergötzen gesucht; nämlich weil die sinnliche Auffassung zum Ergötzen und zur Trauer erfordert wird, und diese stärker auffaßt das ihrer Natur Entgegengesetzte. III. Nicht weil sich der Starke nicht von jedem Schmerze überwinden läßt, wird er gelobt, sondern weil die Todesgefahren ihn nicht von der Tugend abhalten. Dieser Schmerz freilich, der des Todes, wird mehr geflohen, wie das Ergötzen an wohlschmeckenden Speisen oder am geschlechtlichen Zusammenleben gesucht wird. Denn mehr lieben wir das Leben wie die Speise und das geschlechtliche Zusammenleben. Nach dieser Seite hin also wird der Starke mehr gelobt wie der Mäßige. Der Mäßige aber wird deshalb seinerseits mehr gelobt, weil er nicht fortfährt in den Ergötzungen des Tastsinnes, als weil er die entgegenstehenden Traurigkeiten flieht, wie Aristoteles darlegt 3 Ethic. 11.
