Erster Artikel. Die Gaben sind unterschieden von den Tugenden.
a) Es scheint, Tugenden und Gaben bedeuten dasselbe. Denn: I. Gregor (1. moral. 12.) sagt: „Sieben Söhne werden uns geboren, wenn vermittelst der Empfängnis des guten Gedankens die sieben Tugenden des heiligen Geistes in uns entstehen;“ und dann zählt er nach Isai. II. die sieben Gaben des heiligen Geistes auf. Also sind die Gaben des heiligen Geistes Tugenden. II. Augustin (1. de quaest. Evgl. 8.) schreibt: „Sieben Laster sind entgegen den sieben Tugenden des heiligen Geistes“ d. h. den sieben Gaben. Die sieben Laster aber stehen gegenüber den sieben gemeinhin so genannten Tugenden. III. Wo die Begriffsbestimmung die nämliche ist, da sind auch die bezeichneten Dinge selbst die gleichen. Die Begriffsbestimmung der Tugend aber kommt den Gaben zu; denn jede dieser Gaben ist eine „gute Eigenheit des Geistes, vermöge deren man recht lebt“. Und ebenso ist die Begriffsbestimmung der Gabe den eingegossenen Tugenden entsprechend: „Eine Gabe ist das Darbieten von etwas, was man nicht erstatten kann“ nach 4 “Top. 4. Also ist kein Unterschied zwischen Gaben und Tugenden. IV. Mehrere Gaben sind bereits Tugenden; wie die Weisheit, das Verständnis, die Wissenschaft; der Rat gehört zur Klugheit; die Gottergebenheit ist eine Untergattung der Gerechtigkeit; die Stärke ist eine Kardinaltugend. Auf der anderen Seite unterscheidet Gregor der Große (I. c.) die sieben Gaben des heiligen Geistes von den drei theologischen Tugenden; die nach ihm die drei Töchter Jobs bedeuten. Ebenso unterscheidet er sie (2. moral. 26.) von den vier Kardinaltugenden.
b) Ich antworte; was den Charakter des Namens anbetrifft, haben die Tugenden und Gaben keinen Gegensatz zu einander. Denn die Natur der Tugend ist es, den Menschen zu vollenden, daß er gut wirke. Die vom Namen angezeigte Natur der Gabe nimmt Bezug auf die Ursache, von der sie ist. Nichts steht aber dem entgegen, daß das, was von einem anderen gegeben ist, vollende die Seele, damit sie gut wirke; zumal einige Tugenden von Gott eingegossen sind. Also danach ist kein Anhaltspunkt gegeben, die Tugend von der Gabe zu unterscheiden. Und deshalb meinten einige, die Gaben seien thatsächlich nicht unterschieden von den Tugenden. Indes bleibt diesen die Schwierigkeit, zu erklären, warum einzelne Tugenden nur Gaben genannt werden und nicht alle; und warum die Furcht z.B. nicht unter den Tugenden aufgezählt sei. Andere also nahmen einen Unterschied an. Jedoch bezeichneten sie nicht in gebührender Weise die Ursache für die Unterscheidung, insofern dieselbe nämlich derart gemeinsam sein muß für die Tugenden, daß sie keineswegs auf die Gaben angewendet werden könne und umgekehrt. Sie berücksichtigten nämlich, daß von den Gaben vier der Vernunft angehören, die Weisheit, die Wissenschaft, das Verständnis, der Rat; und drei dem begehrenden Teile, die Stärke, die Gottergebenheit, die Furcht; — sie meinten deshalb, die Gaben vollendeten das freie Urteil, insofern dasselbe eine Fähigkeit der Vernunft sei; die Tugenden aber vollendeten es, insofern dasselbe als eine Fähigkeit des Willens sich darstelle; — denn nur zwei Tugenden fanden sie in der Vernunft, den Glauben und die Klugheit, die anderen fanden sie im begehrenden Vermögen. Sollten sie aber Recht haben, so müßten alle Tugenden im begehrenden Teile sein und alle Gaben in der Vernunft. Andere nun berücksichtigten, daß Gregor der Große (2. moral. 26.) sagt: „Das Geschenk des heiligen Geistes, welches im vernünftigen Geiste, der ihm unterworfen ist, die Klugheit, Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Stärke herstellt, festigt diesen selben vernünftigen Geist gegen die einzelnen Versuchungen durch die sieben Gaben.“ Und demgemäß nahmen sie an, daß die Tugenden da sind, um gut zu wirken; die Gaben, um den Versuchungen zu widerstehen. Aber auch kraft der Tugenden widersteht man den Versuchungen, die zu dem, was den Tugenden entgegen ist, anleiten wollen; denn jegliches Wesen widersteht seiner Natur gemäß dem ihm Entgegenstehenden; wie Cant. 8. es von der heiligen Liebe heißt: „Viele Wasser konnten nicht auslöschen die Liebe.“ Deshalb meinten wieder andere, daß ja diese Gaben in der Schrift gelehrt würden als dem Herrn Jesu Christo eigentümlich und daß deshalb die Tugenden wohl die Vollendung gäben, um gut zu wirken; die Gaben aber Christo gleichförmig machten, zumal was sein heiliges Leiden betrifft, wo diese Gaben am meisten leuchteten. Aber auch das ist nichts. Denn der Herr selbst leitet uns an, Ihm gleichförmig zu werden gemäß der Demut und Sanftmut, also gemäß den Tugenden, indem Er sagt: „Lernet von mir, wie ich sanftmütig bin und demütig von Herzen;“ und gemäß der Liebe, zudem Er sagt (Joh. 18.): „Liebet euch gegenseitig, wie ich euch geliebt habe.“ Und diese Tugenden leuchteten ebenso im Leiden Christi. Und deshalb soll man bei der Unterscheidung zwischen Tugenden und Gaben vielmehr der Redeweise der heiligen Schrift folgen, welche uns über die Gaben belehrt; nicht aber unter dieser Benennung „Gaben“, sondern vielmehr unter dem Ausdrucke „Geister“. Denn so heißt es Isai. 11.: „Es wird ruhen auf Ihm der Geist der Weisheit und des Verständnisses“ etc. Daraus geht offenbar hervor, daß diese sieben in der erwähnten Stelle aufgezählt werden, insofern sie in uns sind infolge göttlichen Einhauchens. „Einhauchen“ aber drückt aus eine gewisse Bewegung, die von außen herkommt. Denn es ist zu erwägen, daß im Menschen ein doppeltes, in Thätigkeit setzendes Princip sich findet: das eine ist innen, die Vernunft; das andere außen, Gott. (Vgl. Kap. 9, Art. 4. u. 6.; ebenso Aristoteles cap. 8. lib. 7. magn. moral.) Notwendig aber ist es, daß Alles, was in Bewegung gesetzt wird, im gebührenden Verhältnisse stehen muß zur bewegenden Kraft; und das ist eben die Vollkommenheit des Beweglichen als solchen: die Verfassung, durch welche es in ein gutes Verhältnis gesetzt wird, daß es gebührend bewegt werde von der geeigneten bewegenden Kraft. Je höher also die bewegende Kraft steht, desto notwendiger ist es, daß das Bewegliche durch eine vollendetere Verfassung dieser Kraft entsprechend gestaltet werde; wie wir sehen, daß ein Schüler schon mehr vorbereitet sein muß, um von einem höher stehenden Lehrer Belehrung zu empfangen wie von einem nicht so hoch stehenden. Nun vollenden die Tugenden den Menschen wohl, insoweit er geeignet ist, von der Vernunft aus in ihm zu dem hin, was er wirkt, in Thätigkeit gesetzt zu werden; sei dies ein Wirken was in ihm bleibt oder was auf das Äußere sich richtet. Sonach müssen dem Menschen höhere Vollendungen gegeben werden, auf daß er in der gehörigen Verfassung sei, um von Gott her in Bewegung gesetzt zu werden. Und diese Vollendungen nun nennt man Gaben, nicht nur weil sie von Gott eingegossen werden, sondern weil durch sie der Mensch in die rechte Verfassung kommt, daß er ohne weiteres beweglich wird von seiten der göttlichen Eingebung, des göttlichen Einhauchens her; wie es Isai. 50. heißt: „Der Herr hat mir das Ohr geöffnet; ich aber widerspreche nicht, zurück bin ich nicht gegangen.“ Und Aristoteles sagt ebenfalls (l. c.): „Denen, die da bewegt werden durch göttlichen Antrieb, ist es nicht ersprießlich, Rat zu nehmen gemäß der menschlichen Vernunft, daß sie dem inneren Antriebe folgen; denn dieser kommt von einem höheren Princip,“ als die menschliche Vernunft es ist. Und danach sagen manche, die Gaben vollendeten den Menschen zu höheren Thätigkeiten hin als dies sind die Thätigkeiten der Tugenden.
c) I. Derartige Gaben werden manchmal Tugenden genannt gemäß der gewöhnlichen Auffassung der Tugend. Durch sie tritt jedoch etwas hinzu zum gemeinsamen Wesen der Tugenden, insofern sie gewisse göttliche Kräfte sind, die den Menschen zu dem Zwecke vollenden daß er leicht beweglich sei mit Rücksicht auf Gott. Deshalb setzt auch Aristoteles (7 Ethic. 1.) über die gewöhnliche Tugend hinaus eine gewisse heroische oder göttliche Tugend an, der gemäß in Thätigkeit gesetzt werden „göttliche“, gottbegeisterte Männer. II. Die Laster stehen den Tugenden entgegen, insoweit sie gegen das von der Vernunft bemessene Gute sind. Insoweit die Laster gegen den göttlichen Antrieb sich richten, sind sie den Gaben entgegengesetzt. Denn das Gleiche ist entgegengesetzt Gott und der Vernunft, deren Licht ja sich von Gott ableitet. III. Diese Begriffsbestimmung wird gegeben gemäß der gewöhnlichen„ gemeinen Auffassung von der Tugend. Eigentlich müßte es heißen, um die Tugenden von den Gaben zu unterscheiden: „kraft deren man recht lebt“ entsprechend jener Geradheit des Lebens, wie sie durch die Regel der Vernunft gekennzeichnet wird. Und die Gabe müßte definiert werden, um sie von der eingegossenen Tugend zu unterscheiden „was von Gott gegeben wird mit Beziehung auf die bewegende Kraft, die von Ihm ausgeht und die den Menschen folgsam macht gegenüber dem göttlichen Antriebe.“ IV. „Weisheit“ als Tugend der Vernunft ist jene, die und insoweit sie vom Urteile der Vernunft ausgeht; „Weisheit“ als Gabe ist jene, die und insoweit sie wirkt vom göttlichen Antriebe aus.
