Zweiter Artikel. Die Gaben sind dem Menschen zum Heile notwendig.
a) Dies scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Die Gaben ordnen zu einer Vollendung hin, welche über die gewöhnliche Vollendung der Tugenden hinausgeht. Eine solche Vollendung aber fällt unter den Rat, nicht unter das Gebot. Also sind sie nicht notwendig. II. Durch die theologischen Tugenden verhält sich jemand gut zu den göttlichen Dingen, durch die moralischen ist das nämliche der Fall rücksichtlich der menschlichen Dinge. Also bedarf es, um das Heil zu erlangen, keiner besonderen Gaben. III. Gregor (2. moral. 26.) sagt: „Der heilige Geist giebt Weisheit gegen die Thorheit, Verständnis gegen die stumpfe Gleichgültigkeit, die Gabe des Rates gegen die Übereilung, Stärke gegen die Furcht, Wissenschaft gegen die Unwissenheit, Gottergebenheit gegen die Herzenshärte, Demut gegen den Stolz.“ Dies Alles aber kann auch hinreichenderweise entfernt werden durch die Tugenden. Auf der anderen Seite scheint die Weisheit die höchste Gabe zu sein, die am tiefsten stehende die Furcht. Beides aber ist notwendig zum Heile, nach Sap. 7.: „Niemanden liebt Gott außer den, der mit der Weisheit zusammenwohnt“; und Ekkli. 1.: „Wer ohne Furcht ist, wird nicht gerechtfertigt werden können.“ Also sind auch die dazwischen liegenden Gaben notwendig.
b) Ich antworte, daß die Gaben gewisse Vollendungen des Menschen sind, vermittelst deren dieser dazu geeignet wird, daß er mit Bereitwilligkeit dem göttlichen Antriebe folge. Wo also der Antrieb seitens der Vernunft nicht genügt, da ist notwendig der des heiligen Geistes; und folgegemäß eine Gabe. Die menschliche Vernunft aber ist von seiten Gottes in doppelter Weise vollendet: 1. durch natürliche Vollendung, gemäß der Leuchte der natürlichen Vernunft; — 2. durch eine gewisse übernatürliche Vollendung, vermittelst der theologischen Tugenden. (Kap. 26, Art. 1.) Obgleich nun diese letztere Vollendung größer und umfangreicher ist wie die erste, so wird doch die natürliche Vollendung in einer mehr vollkommenen Weise besessen wie die übernatürliche; denn die erste wird voll und ganz besessen, die letztere nur mangelhaft, da wir unvollkommen Gott kennen und lieben. Offenbar aber ist es, daß jegliches Ding, welches eine Natur oder eine Eigenschaft oder eine Tugend in vollkommener Weise hat, von sich selbst aus gemäß derselben wirken kann, immer vorausgesetzt natürlich das Einwirken Gottes als erster Ursache, der in jeder Natur und innerhalb jeglichen Willens wirkt. Was aber eine Natur oder eine Eigenschaft oder eine Tugend in unvollkommener Weise besitzt, das kann nicht von sich aus wirken, sondern muß von außen her in Thätigkeit gesetzt werden. So kann die Sonne, welche vollkommen lichtvoll ist, von sich aus erleuchten; der Mond aber, in dem die Natur des Lichtes nur unvollkommen sich findet, leuchtet nur, insoweit er selber von außen her erleuchtet ist. Der Arzt auch, der vollkommen die Arzneikunde kennt, kann von sich aus wirken; sein Schüler aber, dessen Unterricht noch nicht vollendet worden, kann nicht von sich aus wirken außer wenn er vorher von seinem Lehrer über den vorliegenden Fall belehrt worden ist. So kann also auch der Mensch mit Rücksicht auf das, was dem menschlichen Urteile unterliegt, in Anbetracht des seiner Natur entsprechenden Zweckes, vermittelst des Urteiles der Vernunft genügend von sich aus wirken und wird es in diesem Falle ein Zeichen überfließender Güte sein, wenn er dazu von Gott durch speciellen Antrieb unterstützt wird, so daß selbst nach den Philosophen nicht wer auch immer erworbene moralische Tugenden hatte, damit heroische odcr gottbegeisterte Tugenden besaß. Mit Rücksicht aber auf den letzten, den übernatürlichen Zweck, zu dem hin die Vernunft bewegt, insofern sie in etwa und unvollkommen vermittelst der theologischen Tugenden herangebildet und geformt ist, genügt diese von der Vernunft ausgehende Bewegung nicht, wenn nicht damit verbunden ist der Antrieb und die Bewegung des heiligen Geistes nach Röm. 8.: „Die durch den Geist Gottes getrieben werden, diese sind Söhne Gottes… und Erben;“ und nach Ps. 142.: „Dein Geist wird mich hinabführen in das rechte Land;“ weil nämlich zur Erbschaft jenes Landes der Seligen niemand gelangen kann außer bewegt und geführt vom heiligen Geiste. Um also jenen Zweck zu erreichen, bedarf es der Gaben des heiligen Geistes.
c) I. Diese Gaben überragen den gewöhnlichen Stand der Tugenden nicht mit Rücksicht auf die Art der Werke, wie etwa die Räte den Geboten vorangehen; sondern mit Rücksicht auf die Art und Weise zu wirken, insofern der Mensch von einem höheren Princip aus in Thätigkeit gesetzt wird. II. Durch die moralischen und theologischen Tugenden wird der Mensch nicht in der Weise vollendet für den letzten Zweck, daß er nicht fortwährend bedürfte, in Thätigkeit gesetzt zu werden vermittelst eines höheren Antriebes des heiligen Geistes. III. Der menschlichen Vernunft ist nicht Alles bekannt und nicht Alles möglich, mag sie als vervollkommnet durch die natürlichen oder durch die theologischen Tugenden angesehen werden. Deshalb kann sie nicht mit Rücksicht auf Alles die „Thorheit“ u. s. w. zurückweisen. Jener aber, dessen Weisheit und Macht Alles Unterthan ist, macht uns infolge der Bewegung, die von Ihm ausgeht, sicher gegen alle Gefahren, die aus der „Thorheit“, „Unwissen heit“ etc. sich ergeben. Und deshalb wird gesagt, die Gaben des heiligen Geistes, die da bewirken, daß wir gebührend folgen seinem Antriebe, werden gegen dergleichen Mängel und Gefahren gegeben.
