Vierter Artikel. Die sieben Gaben werden zukömmlicherweise aufgezahlt.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Vier Gaben beziehen sich da auf die Vernunft, nämlich Weisheit, Wissenschaft, Verständnis, Rat, der mit zur Klugheit gehört. Nichts aber wird gesetzt mit Bezug auf die Kunst, die fünfte Tugend der Ver nunft. Ebenso steht da Gottergebenheit, die zur Gerechtigkeit gehört, und Stärke; nichts aber, was sich auf die Mäßigkeit bezöge. Also genügen die sieben Gaben nicht. II. Die Gottergebenheit oder Frömmigkeit ist ein Teil der Gerechtigkeit. Mit Rücksicht auf die Stärke aber wird diese selbst gesetzt und nicht ein Teil derselben oder eine Untergattung. Also mußte auch Gerechtigkeit selber und nicht ein Teil derselben gesetzt werden. III. Mit Bezug auf die theologischen Tugenden stehen gar keine Gaben verzeichnet. Gerade aber insoweit der Mensch von Gott bewegt wird, bestehen Gaben. Also mußte man mit Rücksicht auf die theologischen Tugenden vorzugsweise Gaben ansetzen. IV. Wie Gott gefürchtet wird, so wird Er auch geliebt und man hofft auf Ihn und ergötzt sich an Ihm. Also mußte nicht nur die Furcht als Gabe gesetzt werden, sondern auch Liebe, Hoffnung und Freude. V. Zum Verständnisse wird die Weisheit gesetzt als leitende Richtschnur, zur Stärke der Rat, zur Gottergebenheit die Wissenschaft. Also mußte auch zur Furcht eine leitende Richtschnur hinzugefügt werden. Auf der anderen Seite steht die Autorität der Schrift.
b) Ich antworte; da die Gaben dazu dienen, daß der Mensch bereitwilliger dem Antriebe des heiligen Geistes folge, wie die Tugenden dazu sind, daß er bereitwilliger der Vernunft gehorche, so sind in allen jenen Vermögen, welche Principien sein können für menschliche Thätigkeiten, nämlich in der Vernunft und im Begehrvermögen, ebenso Gaben, wie da Tugenden sich finden. Die Vernunft nun teilt sich in eine beschauliche und in eine auf das Thätigsein gerichtete. Bei beiden wird die Erfassung der Wahrheit berücksichtigt, die dazu gehört, um die Wahrheit zu finden und nach ihr zu urteilen. Mit Rücksicht auf die Erfassung der Wahrheit also wird die beschauliche (spekulative) Vernunft vollendet durch die Gabe des Verständnisses; die auf das Thätigsein nach außen hin gerichtete (praktische) Vernunft durch die des Rates. Für das Urteilen wird die erstere Vernunft vollendet durch die Weisheit, die zweitgenannte durch die Wissenschaft. Die begehrende Kraft nun wird, soweit es die Beziehungen zu anderen angeht, vollendet durch die Gottergebenheit (Frömmigkeit); soweit es die Beziehung zu sich selber angeht, durch die Stärke, nämlich gegenüber den Todesgefahren; und mit Bezug auf die Begierlichkeiten nach ungeordneten Ergötzungen besteht da die Gabe der Furcht, nach Prov. 15.: „Jeglicher entfernt sich vom Übel aus Furcht vor Gott;“ und Ps. 118.: „Durchbohre mit Furcht mein Fleisch; vor Deinen Ratschlüssen hatte ich Furcht.“ Und so erstrecken sich diese Gaben auf Alles, worauf die Tugenden sich richten.
c) I. Die Gaben des heiligen Geistes vollenden den Menschen, daß er recht lebe; damit hat aber die Kunst als rechte Richtschnur des äußeren Werkes nichts zu thun. Es kann auch zudem gesagt werden, beim Eingießen der heiligen Gaben gehöre die „Kunst“ dem heiligen Geiste selber an als dem Haupteinwirkenden; nicht aber den Menschen, die nur Werkzeuge sind und von Ihm bewegt werden. Der Tugend der Mäßigkeit entspricht die Furcht, daß jemand nämlich von den schlechten Ergötzungen sich entferne aus Furcht vor Gott und nicht bloß auf Grund des von der Vernunft gekennzeichneten Guten. II. Der Name „Gerechtigkeit“ wird beigelegt von der Geradheit der Vernunft aus. Und da kommt mehr der Charakter der Tugend in Betracht wie der einer „Gabe“. Der Name „Gottergebenheit“ oder Frömmigkeit schließt ein die Ehrfurcht vor dem Vater aller Dinge, vor Gott und sonach dann auch vor dem irdischen Vater und dem Vaterlande. Deshalb nennt man auch die Ehren, die man Gott erweist, Gottesdienst. Zukömmlicherweise also wird die Gottergebenheit, auf Grund deren man aus Ehrfurcht vor Gott allen Gutes erweist, als „Gabe“ bezeichnet. III. Daß der Mensch vom heiligen Geiste in Thätigkeit gesetzt werde, dies setzt voraus, daß er in irgend einer Weise mit dem heiligen Geiste eins sei; wie das Werkzeug vom Künstler nur bewegt ist, insoweit es von ihm berührt wird oder sonstwie mit ihm verbunden ist. Die erste Einigung des Menschen mit Gott nun vollzieht sich vermittelst der theologischen Tugenden. Dieselben also werden für die Gaben vorausgesetzt, wie gewissermaßen die Wurzeln derselben. Die Gaben setzen somit das von den theologischen Tugenden Gewirkte nur fort. IV. Liebe, Hoffnung, Freude haben zum Gegenstande das Gute. Da nun das höchste Gut Gott ist, so werden diese Namen übertragen auf die theologischen Tugenden, kraft deren die Seele mit Gott verbunden wird. Der Gegenstand der Furcht aber ist das Schlechte, was Gott in keiner Weise zukommt. Also schließt sie nicht die Verbindung mit Gott ein, sondern vielmehr eine Entfernung von gewissen Dingen auf Grund der Ehrfurcht vor Gott. Und deshalb ist die Furcht nicht der Name einer theologischen Tugend, wohl aber einer „Gabe“; denn eine solche „Gabe“ zieht mit höherer Gewalt vom Bösen ab wie die moralische Tugend. V. Durch die Weisheit wird geleitet die Vernunft und die Hinneigung des Menschen; und deshalb entsprechen der Weisheit zwei Gaben als von ihr zu leitende; — nämlich von seiten der Vernunft das Verständnis und von seiten der Hinneigung die Furcht. Denn der Grund, Gott zu fürchten, ist vor allem die Betrachtung der göttlichen hocherhabenen Majestät und diese wird betrachtet von der Weisheit.
