Achter Artikel. Die Gaben stehen höher wie die Tugenden.
a) Das Gegenteil scheint zu sagen: I. Augustin (15. de Trin. 18.): „Nichts steht höher wie die Gabe der heiligen Liebe; sie allein scheidet zwischen den Söhnen des ewigen Reiches und den Söhnen der ewigen Verdammnis. Andere Geschenke noch teilt aus der heilige Geist; keines jedoch nützt ohne die heilige Liebe.“ Diese aber ist eine Tugend. II. Gregor der Große (2. moral. 26.): „Die Gabe des heiligen Geistes bildet vor allem Anderen in dem ihr unterworfenen Geiste heran die Gerechtigkeit, die Klugheit, die Stärke und die Mäßigkeit; und so schmückt sie den nämlichen Geist allsobald mit den sieben Tugenden,“ d. h. mit den Gaben, so daß „gegen die Thorheit die Weisheit, gegen die stumpfe Gleichgültigkeit das Verständnis, gegen die Übereilung der Rat, gegen die Furcht die Stärke, gegen die Unwissenheit die Wissenschaft, gegen die Herzenshärte die Gottergebenheit, gegen den Hochmut die Furcht Er giebt.“ Also stehen die Tugenden im Range höher als die Gaben; denn was seiner Natur nach früher ist, scheint wichtiger zu sein. III. Nochmals Gregor (1. moral. 18.): „Unser Gebet opfern wir auf, damit die Weisheit nicht das Herz erhebe; damit das Verständnis, wenn es gründlicher nachforscht, nicht irre; damit der Rat, wenn er sich vervielfacht, nicht verwirre; die Stärke, während sie Vertrauen einflößt, nicht in den Abgrund stürze; die Wissenschaft nicht aufblähe; die Gottergebenheit, während sie unter das, was strenges Recht wäre, hinabsteigt, nicht sich krümme; da mit die Furcht, wenn sie mehr als notwendig zittert, nicht in die Grube der Verzweiflung falle.“ Also kann man die Gaben schlecht gebrauchen, was bei den Tugenden nicht der Fall ist, „welche niemand“ nach Augustin (2. de lib. arb. 19.) „schlecht gebraucht.“ Auf der anderen Seite werden die Gaben den Tugenden zum Beistande gegeben gegen einzelne Mängel und scheinen so zu vollenden, was die Tugenden nicht fertig bringen können. Also stehen sie höher wie die Tugenden.
b) Ich antworte, es gebe drei Arten Tugenden: die theologischen, die moralischen und die in der Vernunft. Durch die theologischen Tugenden wird der Geist mit Gott verbunden; durch die in der Vernunft diese, nämlich die Vernunft, vollendet; und die moralischen Tugenden machen, daß das Begehren gehorche der Vernunft. Durch die Gaben des heiligen Geistes aber werden alle Kräfte der Seele in die richtige Verfassung gesetzt, daß sie Gottes bewegender Kraft untergeben sind. Somit stehen die Gaben zu den theologischen Tugenden im selben Verhältnisse wie die moralischen Tugenden zu denen in der Vernunft. Und wie die Tugenden in der Vernunft voranstehen den moralischen und die regelnde Richtschnur für dieselben sind, so stehen die theologischen Tugenden, durch die der Geist des Menschen mit dem heiligen Geiste geeint wird, voran den Gaben. Deshalb sagt Gregor (1. moral. 12.): „Zur Vollendung der Zehnzahl kommen die sieben Söhne nicht, wenn nicht Alles was sie thun in Glaube, Hoffnung und Liebe geschieht.“ Weil jedoch die Gaben dem Geiste die Vollendung geben mit Rücksicht auf den bewegenden heiligen Geist; so stehen sie voran allen anderen Tugenden, welche nur die menschliche Vernunft vollenden oder die anderen Kräfte, insoweit diese in Beziehung stehen zur Vernunft. In Beziehung aber auf eine höher stehende bewegende Kraft bedarf das Bewegliche einer größeren Vollkommenheit, um zu dieser Kraft in die richtige Verfassung zu treten.
c) I. Die heilige Liebe ist eine theologische Tugend und steht demnach höher wie die Gaben. II. Es ist etwas früher einmal in der Ordnung der Vollkommenheit und Würde, wie die Liebe Gottes früher ist als die des Nächsten; und so sind die Gaben früher wie die Tugenden der Vernunft und die moralischen, sie stehen aber den theologischen Tugenden nach; — dann in der Ordnung des Entstehens oder Erzeugens, wie die Liebe des Nächsten rücksichtlich der Thätigkeit vorher kommt als der Akt der Liebe Gottes; und so sind die moralischen Tugenden und die in der Vernunft früher wie die Gaben, denn wenn der Mensch sich gut verhält zur eigenen Vernunftregel, so kommt er dadurch in die Verfassung, daß er sich auch mit Bezug auf Gott gut verhält. III. Die Weisheit, das Verständnis u. dgl. sind Gaben des heiligen Geistes, insofern sie von der heiligen Liebe ihre Form und Vollendung erhalten, die da „nicht schlecht handelt.“ (1. Kor. 15.) Der Weisheit etc. also bedient niemand sich schlecht, insoweit sie Gaben des heiligen Geistes sind. Damit sie aber von der Vollendung der Liebe nicht sich entfernen, steht die eine der anderen bei. Und das will Gregor sagen.
