Sechster Artikel. Die Begchungs- und Unterlassungssünde sind der Gattung nach nicht verschieden.
a) Das Gegenteil scheint richtig. Denn: I. Der Apostel unterscheidet in der angegebenen Weise, wenn er sagt (Ephes. 2.): „Da ihr gestorben wäret in eueren Vergehen und Sünden;“ wozu die Glosse bemerkt: „Vergehen, d. i. vorübergehen lassen das, was befohlen ist; Sünden, d. i. thun das, was verboten ist.“ Also ist da unterschieden zwischen Unterlassungs- und Begehungssünde.“ II. Dem Wesen der Sünde kommt es an und für sich zu, gegen das Gesetz Gottes zu sein. Unter den Geboten Gottes aber gebieten die einen etwas, die affirmativen; die anderen verbieten etwas, die negativen. Gegen die ersteren richtet sich nun die Begehungs-, gegen die letzteren die Unterlassungssünde. Also ist da ein Wesens- oder ein Gattungsunterschied. III. Begehen und Unterlassen unterscheidet sich wie Bejahen und Verneinen. Bejahen und Verneinen aber kann sich nicht in ein und derselben Gattung finden, denn die Verneinung hat keine Gattung; „dem Nichtsein kommt weder Gattung noch Wesensunterschied zu,“ heißt es 4. Physic. Also kann die Begehungs- und Unterlassungssünde nicht ein und derselben Gattung zugehören. Auf der anderen Seite nimmt der Geizige fremdes Gut; und das ist Begehungsfünde; — der nämliche Geizige unterläßt denen vom Seinigen zu geben, welchen es gebührt; und das ist Unterlassungssünde. Also ist Beides der nämlichen Sündengattung zugehörig.
b) Ich antworte; in den Sünden findet sich 1. ein formaler Unterschied; — und 2. ein rein natürlicher, materialer, der sich nach der natürlichen, nicht nach der moralischen Gattung der sündlichen Handlung richtet; während der formale gemäß der Beziehung zum besonderen bestimmenden Zwecke aufzufassen ist, der ja als der eigentliche Gegenstand dasteht. So nun finden sich einzelne Handlungen, die dem rein natürlichen Bestande nach — materialiter — (der nämlich dem Zwecke gegenüber das bestimmbare Element vorstellt) wohl voneinander verschieden sind, formal aber in der gleichen Gattung der Sünde sind, weil sie zu ein und demselben bestimmenden Momente hin bezogen werden; wie zu ein und derselben moralischen Gattung des Mordes gehört das Steinigen, das Durchbohren, das Hängen, obgleich dem natürlichen Bestande nach diese einzelnen Handlungen in der Gattung verschieden sind. Sprechen wir also im weiten Sinne von Gattung, soweit nämlich die Verneinung oder der Mangel überhaupt einer Gattung zugebören kann, so sind die Begehungs- und Unterlassungssünde, insofern der natürliche Bestand der Handlung in Betracht kommt, — materialiter — in der Gattung verschieden. Da aber beide zum selben Zwecke in Beziehung stehen und aus dem nämlichen Beweggrunde hervorgehen, so sind sie formal in der Gattung nicht verschieden. Denn der Geizige raubt, um Geld zusammenzubringen, fremdes Gut; und giebt nicht, was er geben mußte; — und der Gaumenlustige ißt, um seiner Leidenschaft zu fröhnen, überflüssiges; und unterläßt die vorgeschriebenen Fasten; und so ähnlich in den anderen Fällen. Denn immer ist jede Verneinung auf eine Bejahung begründet, welche gleichsam ihre Ursache ist; so daß auch im Bereiche der bloßen Natur ganz der nämlichen Seinsgattung es zugehört, daß das Feuer wärmt und daß es nicht kalt macht.
c) I. Diese Unterscheidung ist im „materialen“ (vgl. ob:) Sinne zu verstehen. II. Stufenweise sollen die Menschen zur Tugend angeleitet werden. Deshalb bestehen negative Gebote, die vom Bösen zurückhalten; und positive, die zum Guten führen. Und sonach gehört diese Einteilung der Gebote nicht zu verschiedenen Tugenden, sondern zu verschiedenen Stufen der Tugend. Also kommt von da her kein Gattungsunterschied in den Sünden. Denn die Sünde hat ihre Gattung nicht von seiten der Abwendung vom letzten Endzwecke, sondern von seiten der Zuwendung zu einem gewollten Gute, also insofern sie Thätigkeit ist. III. Hier ist wieder vom „materialen“ Unterschiede die Rede. Übrigens wird die Verneinung immer dadurch zu einer Gattung zugehörig, daß sie sich auf eine Bejahung zurückführen läßt.
