Vierter Artikel. Die Gabe der Weisheit kann nicht bestehen ohne die Gnade.
a) Sie kann zusammen mit der Todsünde in der Seele bleiben. Denn: I. Dessen, was man ohne Gnade nicht haben kann, rühmen sich die Heiligen, nach 2. Kor. 1.: „Unser Ruhm ist das Zeugnis unseres Gewissens.“ Der Weisheit aber soll man sich nicht rühmen, nach Jerem. 9, 25. II. Die Kenntnis göttlicher Dinge, welche ja in der Weisheit eingeschlossen ist, kann bestehen mit der Todsünde, nach Röm. 1.: „Die Wahrheit Gottes halten sie fest in der Ungerechtigkeit.“ III. Augustin (15. de Trin. 18.) schreibt über die Liebe: „Nichts ist hervorragender wie dieses Geschenk Gottes; es allein scheidet zwischen den Kindern des ewigen Reiches und den Kindern des Verderbens.“ Die Weisheit ist aber unterschieden von der Liebe. Auf der anderen Seite heißt es Sap. 1.: „In eine boshafte Seele tritt nicht ein die Weisheit und sie wohnt nicht in einem den Sünden ergebenen Körper.“
b) Ich antworte, die Weisheit als Gabe des heiligen Geistes bewirke die Geradheit des Urteils über göttliche Dinge oder, kraft der göttlichen Richtschnur, über Anderes gemäß einer gewissen zur Natur gewordenen Verwandtschaft oder Einigung mit dem Göttlichen. Da nun diese Einigung durch die Liebe vollzogen wird, so wird die Liebe von der Weisheit vorausgesetzt und kann somit letztere mit der Todsünde nicht zusammen bestehen.
c) I. Das ist zu verstehen von der irdischen Weisheit, von der die Heiligen bekennen, daß sie selbige nicht haben, nach Prov. 30.: „Die Weisheit der Menschen ist nicht mit mir.“ Der göttlichen Weisheit aber rühmen sie sich, nach 1. Kor. 1.: „Christus ist uns Weisheit geworden von Gott her.“ II. Da ist jene Weisheit gemeint, welche man durch Studium gewinnt; die kann mit der Todsünde bestehen. III. Die heilige Liebe wird von der Gabe der Weisheit vorausgesetzt; mag sie auch verschieden von ihr sein.
