Dritter Artikel. Ein Urteil, auf bloßen Verdacht gegründet, ist nicht erlaubt.
a.) Ein solches Urteil ist wohl erlaubt. Denn: I. Verdacht will sagen eine ungewisse Meinung haben rücksichtlich eines Übels. Die einzelnen Handlungen aber als zufällig und mit Freiheit geschehende lassen keine gewisse, zuverlässige Meinung zu, da aller Gewißheit Gegenstand das Notwendige ist. Also muß man geradezu auf bloßen Verdacht hin über die menschlichen Handlungen urteilen. II. Unerlaubtes Urteil ist ein dem Nächsten angethaenes Unrecht. Der böse Verdacht aber besteht nur in der Meinung des einzelnen Menschen; also ist damit kein Unrecht für den Nächsten verbunden. III. „Verdächtigungen können wir nicht meiden,“ sagt Augustin (traot. 90. in Joan.). Da also Unrecht thun immer schwere Sünde ist, soweit die „Art“ in Betracht kommt, so wäre die schwere Sünde nicht zu vermeiden. Also ist ein Urteil aus bloßem Verdacht nicht unerlaubt. Auf der anderen Seite sagt Chrysostomus zu Matth. 7. (Nolite judicare): „Der Herr verbietet durch dieses Gebot nicht, andere aus Wohlwollen zu bessern; aber Er will nicht, daß man aus Anmaßung und auf bloße Verdachtsgründe hin über andere urteile.“
b) Ich antworte, nach Cicero besage der Verdacht die Meinung, daß ein Übel vorhanden sei, und zwar auf Grund leichter Anzeichen. Das kommt nun 1. daher, daß jemand in sich böse ist und somit leicht argwohnt, die anderen thäten auch Böses, nach Ekkle. 10.: „Der Thor wandelt auf seinem Wege; und da er selber ein Thor ist, meint er, die anderen seien es auch;“ — 2. daher, daß jemand eine Abneigung gegen jemanden hat, ihn verachtet, beneidet 20.; er argwohnt Schlechtes dann auf leichte Anzeichen hin, weil jeder gern glaubt das, wonach er begehrt; — 3. daher, daß man eine lange Erfahrung hat. Deshalb nennt Aristoteles (2 Rhet. 13.) die Greise im höchsten Grade argwöhnisch, weil sie oft die Fehler der anderen zu ihrem Nachteile erfahren haben. Die beiden ersten Beweggründe nun schließen offenbar eine Verkehrtheit in der Hinneigung ein. Der dritte vermindert das Wesen des Verdachtes; denn die Erfahrung führt zur Gewißheit, welche dem Wesen des Verdachtes oder Argwohns entgegen ist. Verdacht also oder Argwohn ist ein Fehler; und je umfassender er ist, ein desto größerer Fehler ist er. Nun giebt es drei Stufen im Verdachte: 1. Die erste Stufe ist, daß der Mensch auf schwache Anzeichen hin an der Güte des anderen zu zweifeln beginnt, und das ist eine läßliche Sünde; dies ist „Versuchung, ohne welche das menschliche Leben nicht besteht.“ (Aug. l. c. in III.) 2. Der zweite Grad besteht darin, daß jemand auf leichte Anzeichen hin die Schuld des Nächsten für gewiß erachtet; und betrifft dies etwas Schwerwiegendes, so ist es Todsünde, da es ohne die Verachtung des Nächsten nicht besteht. Deshalb folgt oben bei Augustin (l. c. III.): „Wir müssen uns aber fester Urteile und Ansichten enthalten.“ 3. Der dritte Grad ist, wenn ein Richter auf schwache Anzeichen hin jemanden verurteilt; und das ist geradezu Ungerechtigkeit und Todsünde.
c) I. Durch geeignete Zeugen kann in den menschlichen Handlungen in etwa Gewißheit, wie eine solche Menschlichem entspricht, erlangt werden. II. Der ohne zureichende Ursache eine schlechte Meinung vom anderen hat, verachtet diesen ungebührlicherweise und thut ihm also Unrecht. III. Da die Gerechtigkeit mit dem Thätigsein nach außen hin zu thun hat, so ist ein argwöhnisches Urteil in dem Falle offen ungerecht, wenn es sich im äußeren Thätigsein äußert; und da ist es Todsünde. Das innere Urteil aber gehört zur Ungerechtigkeit gemäß seiner Beziehung zum Urteil, das nach außen sich offenbart; wie also überhaupt der innere Akt zum entsprechenden äußeren im Verhältnisse steht, wie der Zorn z. B. zum Totschlag.
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