Vierter Artikel. Zweifel sollen nach der günstigeren besseren Seite hm ausgelegt werden.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Urteilen muß man gemäß dem, was für gewöhnlich und in den meisten Fällen sich zuträgt. Für gewöhnlich aber geschieht es, daß die Menschen schlecht handeln, denn „die Zahl der Thoren ist ohne Ende,“ nach Ekkle. 1.; und: „Hingeneigt sind die Sinne des Menschen zum Bösen von seiner Jugend an,“ nach Gen. 8, 21. Also müssen wir Zweifel immer nach der schlimmeren Seite hin auslegen. II. Augustinus schreibt (I. de doctr. christ. 27.): „Jener lebt fromm und aufrichtig, der die Dinge abschätzt wie sie sind, und zu keinem Teile von vornherein hinneigt.“ Wer aber dem Grundsatze folgt, Zweifel immer nach der besseren Seite hin auszulegen, der neigt von vornherein zu einer bestimmten Seite hin. III. Der Mensch soll den Nächsten lieben wie sich selbst. Rücksichtlich seiner selbst aber soll der Mensch immer zum schlechteren Teile hin sich viel mehr neigen, nach Job 9.: „Ich fürchtete für alle meine Werke.“ Also gilt das auch für den Nächsten. Auf der anderen Seite steht die Autorität Augustins in 2. de serm. Dom. in monte 18.
b) Ich antworte, daß infolge der schlechten Meinung selber, die jemand aus unzureichenden Gründen über einen anderen hat, er bereits diesen verachtet. Niemand aber darf ohne zwingenden Grund den anderen verachten oder ihn beschädigen. Wo also keine offenbaren Anzeichen von dessen Schlechtigkeit erscheinen, müssen wir ihn für gut halten und zum besseren Teile hin das Zweifelhafte auslegen.
c) I. Besser ist es, daß jemand öfter sich täusche in seiner guten Meinung über andere, als daß er ohne zwingenden Grund eine schlechte Meinung über andere hat und sich seltener täusche; denn im letzteren Falle thut er dem anderen Unrecht, nicht aber im ersten. II. Etwas Anderes ist es, über Sachen zu urteilen; und etwas Anderes, über Menschen. Denn im ersten Falle wird nicht berücksichtigt, ob man der betreffenden Sache schade oder Gutes thue. Es ist da nur etwas Gutes für den Richtenden, wenn er gut und recht richtet; und etwas Übles, wenn er schlecht richtet, wie ja das Wahre das der Vernunft entsprechende Gute ist und das Falsche das ihr entsprechende Üble. Also muß nach dieser Seite jeder so über die Dinge urteilen, wie sie sind. Gilt es aber, Menschen zu beurteilen, so wird in erster Linie das Gute und das Üble berücksichtigt auf seiten dessen, über den man urteilt, der als Ehrenmann da steht, wenn das Urteil über ihn ein gutes ist, als verächtlich, wenn das Urteil über ihn ein schlechtes ist. Darauf also müssen wir da in erster Linie sehen, daß wir einen Menschen für gut halten, so lange nicht ein offenbarer Grund für das Gegenteil erscheint. Ist aber das Urteil falsch, womit jemand über den anderen gut urteilt, so ist dasselbe nicht etwas Übles für seine Vernunft, wie es ja auch nicht zu deren Vollendung an und für sich gehört, die Wahrheit zufälliger Einzelheiten zu erkennen; viel mehr zeigt ein solches Urteil die innere Güte des Willens. III. Es kann etwas zum Besseren oder Schlechteren hin ausgelegt werden: 1. auf Grund einer gewissen Voraussetzung; und so ist es, wenn wir die Übel entweder in uns oder in anderen heilen sollen, von Nutzen, das Übel als ein schlimmeres vorauszusetzen, weil das für ein größeres Übel wirksame Heilmittel um so mehr wirksam ist gegenüber einem geringeren; — 2. insoweit etwas durch das Urteil als gut oder schlecht hingestellt und bestimmt werden soll; und so muß jeder, soweit es Dinge angeht, darauf hinarbeiten, daß er jegliches Ding so auslegt wie es ist; soweit es Personen angeht, daß er zum Besseren hin auslegt.
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