Zweiter Artikel. Der Zorn ist bisweilen Sünde.
a) Das ist er niemals. Denn: I. Der Zorn ist eine Leidenschaft; also verdienen wir weder damit noch mißverdienen wir. (2 Ethic. 5.) II. In aller Sünde besteht eine Zuwendung zu vergänglichem Gute, was beim Zorne nicht der Fall ist. III. „Keiner sündigt in dem, was er nicht vermeiden kann.“ (Aug. 3. de lib. arbitr. 19.) „Die Zornesbewegung aber ist nicht in unserer Gewalt,“ bemerkt Cassiodor zu Ps. 4. (irascimini et nolite peccare). Also ist sie keine Sünde; zudem noch (7 Ethic. 6.) Aristoteles bemerkt, „der zornige handle mit Trauer,“ die Trauer aber nichts Freiwilliges ist. IV. Die Sünde ist gegen die Natur. (Joh. Dam. 2. de orth. fide 4 et 30.) Zürnen aber ist nicht gegen die Natur, sondern die Thätigkeit eines der Natur angemessenen Vermögens, der Abwehrkraft, so daß Hieronymus (ep. 9. ad Salvinam) sagt: „Zürnen ist menschlich.“ Auf der anderen Seite „soll aller Unwille und aller Zorn uns fernbleiben,“ nach Ephes. 4.
b) Ich antworte, eine Leidenschaft sei insoweit etwas Gutes als sie in der Vernunft ihre Regel und Richtschnur besitzt. Da also der Zorn eine Leidenschaft ist, so unterliegt sie der Regelung seitens der Vernunft; und zwar 1. mit Rücksicht auf das Begehrbare, worauf sie sich richtet, was die Rache ist. Wenn also jemand begehrt, daß die Vergeltung sich vollziehe gemäß der Ordnung der Vernunft, so ist dieser Zorn lobenswert und wird Zorneseifer genannt. Wird eine Vergeltung gegen die Ordnung der Vernunft erstrebt, so daß z. B. jemand bestraft werde, ohne es verdient zu haben oder mehr als er verdiente oder nicht in der gebührenden Weise oder nicht wegen des gebührenden Zweckes, so ist dieser Zorn sündhaft und so entsteht die Sünde des Zornes oder der Zornmut. 2. Mit Rücksicht auf die Art und Weise sich zu rächen, daß der Zorn weder innerlich noch äußerlich über das Maß hinaus erglühe; was wenn es geschieht auch für sich allein sündhaft ist.
c) I. Der Zorn als Leidenschaft hat weder Verdienst noch Mißverdienst, sondern nur mit Rücksicht auf die Regelung durch die Vernunft. Ist er geregelt, so verdient der zornige; ist der Zorn nicht geregelt, so besteht damit ein Mißverdienst: „Gelobt oder getadelt wird, wer ein wenig zürnt;“ heißt es deshalb bei Aristoteles (I. c.). II. Der zornige begehrt nicht nach dem Übel an sich im anderen, sondern als Rache. Das ist das Gute, die Vergeltung, zu welchem der Zorn sich wendet. III. Der Mensch ist Herr seines Wirkens durch die Vernunft. Die Bewegungen also in ihm, welche dem vernünftigen Urteile zuvorkommen, sind im allgemeinen nicht so in der Gewalt des Menschen, daß gar keine aufstehe; obgleich die Vernunft die Macht hat, jede zu unterdrücken, welche thatsächlich ersteht. Danach also ist die Zornesbewegung nicht in der Gewalt des Menschen, daß nämlich keine erstehe. Weil dies aber in etwa immerhin der Gewalt des Menschen unterliegt, so verlieren solche Bewegungen nicht den Charakter des Sündhaften, wenn sie ungeregelt sind. Der zornige trauert zudem nicht über den Zorn, sondern über die wie er glaubt ihm angethaene Beleidigung; und diese Trauer bestimmt ihn zur Rache. IV. Von Natur ist die Abwehrkraft im Menschen der Vernunft unterworfen. Ihr Akt also ist ein natürlicher, insoweit er der Vernunft folgt; sonst sieht er ab von der Natur.
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