Sechster Artikel. Der Zorn ist eine Hauptsünde.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Der Zorn kommt von der Trauer, die eine Hauptsünde ist und als geistige Trägheit (akedia) bezeichnet wird. II. Der Haß ist eine schwerere Sünde wie der Zorn; also muß viel mehr er Hauptsünde sein. III. Zu Prov. 29. (vir iracundus provocat rixas) sagt die Glosse: „Der Zorn ist die Thüre zu allen Lastern. Ist sie geschlossen, so ist unter den inneren Tugenden Friede; ist sie geöffnet, so bewaffnet sich der Geistzu allen Schandthaten.“ Keine Hauptsünde aber ist das Princip aller Sünden. Auf der anderen Seite steht bei Gregor (33. moral. 17.) der Zorn unter den Hauptsünden.
b) Ich antworte, Hauptsünde sei jene Sünde, aus der viele andere entstehen. Aus dem Zorne aber entstehen seinem Wesen nach viele Sünden: 1. auf Grund seines Gegenstandes, der den Charakter des höchst Begehrbaren hat; denn die Vergeltung wird da unter dem Gesichtspunkte des Gerechten begehrt, zieht also als etwas Würdevolles an; — 2. auf Grund seiner stürmischen Schnelligkeit, die den Geist hinreißt zu vielem Ungeregelten. Also ist der Zorn eine Hauptsünde.
c) I. Jene Trauer ist nicht die acedia oder das Laster der geistigen Trägheit, sondern die Leidenschaft der Trauer; aus ihr geht der Zorn hervor. II. Der Zweck einer Hauptsünde hat den Charakter des höchst Begehrenswerten; und aus Grund des Begehrens nach diesem Zwecke werden viele andere Sünden begangen. Der Zweck des Zornes aber, das Übel nämlich unter dem Gesichtspunkte der Gerechtigkeit, ist in höherem Grade begehrenswert, wie der Haß, der das Übel als Übel begehrt; und so ist er mehr geeignet, Hauptsünde zu sein wie der Haß. III. Der Zorn entfernt das Hindernis für den Eintritt der Laster in den Geist, nämlich das ruhige Urteil der Vernunft, welches den Menschen vom Bösen abzieht; und so, per accidens also, nebenbei, nicht auf Grund seines Wesens, ist er die Thüre aller Laster. An und für sich, kraft seines Wesens, ist der Zorn Ursache einzelner specieller Sünden.
