Zweiter Artikel. Die Prophetie oder Sehergabe ist kein Zustand im eigentlichen Sinne.
a) Dem wird widersprochen. Denn: I. «Dreierlei ist in der Seele: Vermögen, Leidenschaft, Zustand.“ (2 Ethic. 3.) Die Prophetie aber ist kein Vermögen; denn sie ist nicht allen Menschen gemeinsam; — sie ist keine Leidenschaft; denn eine solche ist im begehrenden Teile; — also ist sie ein Zustand. II. Jede Vollendung der Seele, die nicht eine fortwährend thatsächliche ist, muß ein Zustand sein. Die Prophetie aber ist eine Vollendung der Seele, ist jedoch nicht immer in Thätigkeit; sonst wäre der Prophet, wenn er schläft, kein Prophet. Alfo ist sie ein Zustand. III. Die Prophetie ist eine Gnade; die Gnade aber ist etwas Zuständliches in der Seele. (I., II. Kap. 110, Art. 2.) Auf der anderen Seite ist ein Zustand etwas, dessen man sich bedienen kann, wann man will. (Averr. 3. de an. comm. 18.) Es kann aber ein Prophet nicht weissagen, wann er will, wie das 4. Kön. 3. klar ist, wo „der König Iosaphat den Propheten Elisäus über die Zukunft befragt; und da der Geist des Weissagens ihm mangelte, ließ Elisäus einen Psalterspieler kommen, damit vermittelst des Lobgesanges der Psalmodie der Geist sich in ihn senke und seine Seele mit der Wissenschaft des Zukünftigen erfülle.“ (Gregor. sup. Ezech. hom. 1) Also ist die Prophetie sein Zustand.
b) Ich antworte; „Alles was offenbart wird, ist Licht.“ (Ephes. 5.) Wie nämlich was körperlich geschaut wird, durch körperliches Licht offenbar erscheint; so wird auch das geistig Geschaute offenbar durch das geistige Licht. Das Offenbarwerden also muß im entsprechenden Verhältnisse stehen zum Lichte, wodurch es sich vollzieht, wie die Wirkung im Verhältnisse stehen muß zur Ursache. Da nun die Prophetie eine über die natürliche Vernunft erhabene Kenntnis ist, so wird demgemäß zur Prophetie erfordert ein geistiges Licht, das die natürliche Helle der Vernunft übersteigt. Daher sagt Michäas (7, 8.): „Wenn ich in den Finsternissen sitze, ist der Herr mein Licht.“ Das Licht kann aber als eine dauernde Eigentümlichkeit anwesend sein, wie das Licht in der Sonne ist und im Feuer; oder als ein vorübergehender Eindruck in der Weife einer gewissen Leidenschaft, wie das Licht in der Luft sich findet. In der ersten Weife nun ist das prophetische Licht nicht im Propheten; sonst müßte er immer prophezeien können, was nicht der Fall ist. Denn Gregor sagt (1. o.): „Manchmal fehlt der Geist der Weissagung den Propheten und nicht immer steht er zu ihrer Verfügung; damit sie, wenn sie ihn haben, erkennen, es sei dies eine freie Gabe Gottes, daß sie ihn haben.“ Aus diesem Grunde sagt Elisäus (4. Kön. 1.): „Ihre (der Sunamitis) Seele ist in der Betrübnis und der Herr hat es vor mir verborgen und nicht es mir offenbart.“ Dies ist nun darin begründet, daß,, wo das geistige Licht als dauernde Form die Vernunft vollendet, durch das betreffende Licht an erster Stelle das Princip des Offenbargemachten der Erkenntnis zugänglich gemacht wird; wie z. B. durch das natürliche Licht der einwirkenden Vernunft, des intellectus agens, zuerst die Principien alles dessen, was im Bereiche und auf Grund der Natur erkannt wird, offenbar werden. Das Princip dessen aber, was zur übernatürlichen Kenntnis gehört und was sonach durch die Prophetie erhellt wird, ist Gott selber, der kraft seines Wesens von den Propheten nicht gesehen wird; wohl aber von den Seligen im ewigen Heim, in denen das entsprechende Licht als dauernde und vollendete Form und Eigentümlichkeit sich findet, nach Ps. 35.: „In deinem Lichte werden wir das Licht sehen.“ Also bleibt nur übrig, daß das prophetische Licht in der Seele wie eine Art vorübergehende Leidenschaft oder wie nach Weise eines Eindruckes aufleuchte. Und dies wird bezeichnet Exod. 33.: „Wenn vorübergehen wird meine Herrlichkeit, werde ich dich an die Öffnung des Felsens stellen;“ und 3. Kön. 19.: „Gehe hinaus,“ wird dem Elias gesagt, „und stehe auf dem Berge vor dem Herrn; und siehe der Herr geht vorüber ...“ Wie also die Luft immer von neuem dessen bedarf, erleuchtet zu werden von der Sonne; wie der Schüler, der die Principien der betreffenden Kunst noch nicht in sich besitzt, über die einzelnen Lehrsätze unterrichtet werden muß; — so bedarf der Geist des Propheten immer von neuem der Erleuchtung von feiten Gottes. Deshalb heißt es Isai. 50.: „Am Morgen öffnet Er mir das Ohr, damit ich Ihn höre wie einen Lehrmeister.“ Dasselbe wird angedeutet durch die gewohnte Ausdrucksweise beim Sprechen der Propheten: „Gesprochen hat zu mir der Herr;“ „das Wort des Herrn ward ihm;“ oder „die Hand des Herrn kam über ihn.“ Der Zustand aber ist eine dauernde Form oder Eigentümlichkeit. Also ist die Prophetie kein Zustand.
c) I. Aristoteles zählt nicht Alles auf, was in der Seele ist; sondern nur das, was Princip der moralischen Thätigkeiten sein kann, die bisweilen von der Leidenschaft, bisweilen von einem Zustande, bisweilen von dem Vermögen ausgehen; wie z. B. Jenes da nicht aufgezählt erscheint, was wir auf Grund des vernünftigen Urteils thun, bevor der entsprechende Zustand vorhanden ist. Jedoch kann die Prophetie auf die Leidenschaft zurückgeführt werden, wenn man «Leidenschaft“ nennen will ein beliebiges Empfangen, wie Aristoteles oft sagt, „das vernünftige Erkennen sei ein gewisses „Leiden“ oder Bestimmtwerden.“ Wie nämlich im Bereiche der natürlichen Kenntnis die „mögliche“ oder empfangende Vernunft vom Lichte der „einwirkenden“ Vernunft aus „leidet“ oder bethätigt wird, so „leidet“ oder wird bethätigt bei der prophetischen Kenntnis die Vernunft des Propheten vom Leuchten des göttlichen Lichtes aus. II. Wie im Bereiche des Körperlichen, sobald der leidenschaftliche Ein druck sich entfernt hat, eine gewisse Leichtigkeit im betreffenden Stoffe dafür verbleibt, daß er wieder unter dem nämlichen Eindrucke leide; wie z. B. das Holz, was einmal bereits vom Feuer ergriffen worden, darauf mit größerer Leichtigkeit wieder vom Feuer ergrissen wird, so bleibt in dem Geiste des Propheten, nachdem die thatsächliche Erleuchtung vorbei ist, eine gewisse Leichtigkeit dafür, daß er von neuem erleuchtet werde; wie auch eine Seele, die einmal zur Andacht angeregt worden, später leichter zur Andacht zurück gerufen wird. Deshalb sfagt Augustin im Buche vom Gebete (ep. 130.), man müsse oft beten, „damit nicht die einmal gehabte Andacht ganz erlösche.“ Es kann jedoch zudem gesfagt werden, es würde jemand Prophet genannt, auch nachdem die thatsächliche Erleuchtung vorbei ist, infolge göttlicher Auswahl, nach Ierem. 1.: „Zu einem Propheten unter den Völkern habe ich dich gemacht.“ III. In doppelter Weise wird jemand durch eine Gnadengabe zu etwas erhoben, was über der Natur ist: einmal so, daß die Substanz oder die innere Wesenheit der betreffenden Thätigkeit über der Natur ist, wie z. B. das Wunderwirken, die Kenntnis der Geheimnisse der göttlichen Weisheit; und diesen Thätigkeiten entspricht keine zuständliche Gnadengabe in der Seele; — dann so, daß die betreffende Thätigkeit über der Natur ist mit Rück sicht auf die Art und Weise des Thätigseins, nicht mit Rücksicht auf die innere Wesenheit oder Substanz des Aktes; wie z. B. Gott lieben und erkennen im Spiegel der Kreaturen; und dazu besteht eine zuständliche Gnadengabe.
