Sechster Artikel. Was in wahrhaft prophetischer Weise erkannt wird, kann nichts Falsches fein.
a) Dem widerspricht Folgendes: I. Die Weissagung geht auf Zufälliges in der Zukunft. Das kann aber auch nicht eintreffen, sonst würde es dem Wesen nach nicht mehr zu fällig, sondern etwas Notwendiges sein. II. Isaias sprach zu Ezechiel: „Verfüge über dein Haus, denn du wirst sterben;“ und doch wurden fünfzehn Jahre dem Leben des Königs zugesetzt. (Isai. 38.) Ähnlich bei Ierem. 18.: „Ich will in plötzlicher Eingebung sprechen gegen das Volk und gegen dieses Königreich, daß ich entwurzele und zerstöre und es zerstreue. Thut dieses Volk aber Buße für das Böse, was es gegen mich gesprochen hat, so will auch ich Buße thun wegen dessen, was ich gesprochen habe und gedacht, daß ich ihm anthäte.“ Dies beweist thatsächlich das Beispiel der Niniviten, nach Jon. 3.: „Es erbarmte sich der Herr wegen des Übels, welches Er gesprochen, daß Er es über sie hereinbrechen lassen werde und that es nicht.“ III. Aus einem innerlich notwendigen Bedingungssatze folgt etwas ebenfalls Notwendiges, (l. Poster) Kann aber der Weissagung niemals etwas Falsches zu Grunde liegen, so ist dieser Bedingungssatz innerlich not« wendig: „Wenn etwas geweissagt ist, wird es eintreffen.“ Also ist es auch notwendig, daß es wirklich eintrifft; und somit besteht da nichts Zufälliges mehr. Also kann etwas Falsches Gegenstand der Prophetie sein. Auf der anderen Seite steht die Art. 3. angegebene Definition Cassiodors. Denn wäre jemals etwas Falsches Gegenstand der Weissagung, so wäre ihre Wahrheit nicht mehr unverrückbar.
b) Ich antworte, die Prophetie sei eine durch göttliche Offenbarung dem Geiste nach Weise einer Belehrung eingeprägte Kenntnis. Die Wahl-heit der Lehre aber ist die nämliche im Schüler wie im Lehrer, da die Kenntnis des lernenden die Ähnlichkeit ist der Kenntnis des lehrenden; wie auch im Bereiche des Natürlichen die Wesensform im Erzeugten Ähnlichkeit hat mit der im Erzeugenden. Deshalb definiert Hieronymus die Prophetie „als ein Zeichen des göttlichen Vorherwissens“ (in Dan. 2. Respondentes). Ein und dieselbe Wahrheit also wohnt der prophetischen Kenntnis und Rede inne wie der göttlichen Kenntnis. Sonach kann da unmöglich etwas Falsches zu Grunde liegen.
c) I. Das göttliche Vorherwissen schließt nicht die Zufälligkeit des Zukünftigen aus, nach I. Kap. 22, Art. 4; Kap. 14, 13; denn es richtet sich darauf, wie die zukünftigen Dinge demselben in ihrem thatsächlichen Sein kraft der Ewigkeit gegenwärtig und demgemäß notwendig sind. Also thut dies auch nicht die prophetische Kenntnis als Ähnlichkeit des göttlichen Vorherwissens, trotz der damit verbundenen unverrückbaren Wahrheit. II. Das göttliche Vorherwissen berücksichtigt in zweifacher Weise die zukünftigen Begebnisse: 1. insoweit sie thatsächliches Sein haben und danach dem Blicke des Ewigen gegenwärtig sind; und 2. insoweit sie von ihren Ursachen abhängen und in diesen enthalten sind, denn es schaut die Beziehung der Wirkung zur Ursache. Obgleich nun die zukünftigen Dinge, soweit sie als thatsächlich bestehende geschaut werden und somit als gegenwärtige, in sich notwendig sind, so nämlich, daß, während sie thatsächlich sind, nicht sie nicht sein können; so sind sie doch in ihren Ursachen nicht in dieser Weise bestimmt, daß sie nicht anders sein könnten. Nun ist wohl in Gottes Wissen diese doppelte Kenntnis immer verbunden; nicht aber im prophetischen, da der Eindruck des einwirkenden nicht immer gleichkommt der ganzen Kraft des einwirkenden. Wenn also die prophetische Kenntnis eine dem menschlichen Geiste eingeprägte Ähnlichkeit mit dem göttlichen Vorherwissen ist, insoweit dieses zum Gegenstande hat das thatsächliche, ihm als ewigem bereits gegenwärtige Sein des Zukünftigen, so trifft das Geweissagte zweifellos ein, wie z. B. jenes bei Isai. 7.: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen.“ Erstreckt sich aber die besagte Ähnlichkeit darauf, daß das göttliche Vorherwissen die Beziehung der Ursachen zu den Wirkungen schaut; dann trifft es manchmal anders ein wie geweissagt worden. Und doch liegt der Prophezeiung nichts Falsches zu Grunde. Denn der Sinn einer solchen Prophezeiung ist der, die niederen Ursachen im Bereiche des Natürlichen oder im Bereiche der menschlichen Thätigkeiten seien in solcher Verfassung, daß eine solche Wirkung jedenfalls folgt. Und danach wird zu Ezechiel gesagt: „Du wirft sterben und nicht leben,“ nämlich die augenblickliche Verfassung deines Körpers führt unmittelbar zum Tode. Und was Ionas sagt: „Noch vierzig Tage und Ninive wird zerstört werden“ will heißen: So verlangen es seine Sünden. Von Gott ferner sagt man, er bereue, im figürlichen Sinne; insoweit Er nach Weise eines bereuenden den Urteilsspruch ändert, wenn auch nicht den Ratschluß. III. Ein und dieselbe Wahrheit ist in der prophetischen Kenntnis und in der göttlichen. Also heißt dies: „Wenn etwas prophezeit ist, dann wird es sein,“ ebensoviel wie: „Wenn etwas von Gott vorhergewußt ist, wird es sein.“ Also ist was folgt nicht notwendig mit Rücksicht auf uns, sondern insoweit es seinem thatsächlichen Sein nach dem ewigen Blicke gegenwärtig ist. Was aber als thatsächlich gegenwärtig betrachtet wird, das konnte auch nicht gegenwärtig sein; vgl. I. Kap. 14, Art. 13 ad II.
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