Fünfter Artikel. Nicht alle Arten und Gattungen von Leiden hat Christus getragen.
a) Das Gegenteil wird dargethan. Denn: I. Hilarius (10. de Trin.) sagt: „Der Eingeborene Gottes bezeugt, daß Er, um das Geheimnis seines Todes zu vollenden, alle Arten Leiden erschöpft habe, da Er das Haupt neigte und den Geist aufgab.“ II. Isai. 52. heißt es: „Siehe mein Knecht wird einsehen und Er wird verherrlicht und erhöht werden und wird überaus erhaben sein. Und wie Ihn angestaunt haben viele, so wird mit Schande bedeckt sein unter den Männern sein Anblick und seine Gestalt unter den Menschenkindern.“ Nun hatte Christus alle Fülle der Gnade und des Wissens, wegen deren Er angestaunt wurde. Also hatte Er auch alle Arten von Schande d. h. von Leiden. III. Christus wollte befreien den Menschen von jeder Art und Gattung Sünde. Also mußte Er auf Sich nehmen jede Art von Leiden. Auf der anderen Seite heißt es Joh. 19.: „Die Soldaten brachen die Knie des ersten entzwei, der mit Jesu gekreuzigt worden war und die Knie des zweiten. Als sie aber zu Jesu kamen und sahen, wie Er schon tot war, zerbrachen sie nicht seine Knie.“ Also litt Er nicht unter jeder Art von Leiden.
b) Ich antworte; mit Rücksicht auf die Arten von Leiden konnte Christus nicht alle insgesamt tragen; denn sie sind einander entgegengesetzt. Er konnte nicht z. B. verbrannt werden, da Er den Tod am Kreuze leiden wollte. Nach einer anderen Seite hin aber hat Er alle Leiden getragen; und zwar 1. von seiten der Menschen her. Denn Er hat von allen Arten Menschen her gelitten, von Heiden und Juden, von Männern und Frauen, wie z. B. von den Mägden, welche den Petrus anklagten; — von Fürsten und deren Dienern und von Leuten aus dem Volke, wie der Psalm 2. ausspricht: „Warum knirschen die Völker und denken sie an Eitles? Die Könige der Erde erhoben sich und die Fürsten kamen zusammen gegen den Herrn und seinen Gesalbten;“ — von vertrauten und bekannten, wie von Judas, der Ihn verriet, und von Petrus, der Ihn verleugnete. Sodann hat 2. der Herr gelitten in allem dem, worin jemand leiden kann: in seinen Freunden, die Ihn verließen; in seinem guten Rufe, durch die gegen Ihn ausgestoßenen Lästerungen; in der Ehre und im Ruhme, durch Verspottung und Schmähung; in seinen Sachen, indem man Ihn seiner Kleider beraubte; in der Seele, durch Trauer, Überdruß, Furcht; im Körper durch Schläge und Wunden. 3. Es hat Christus gelitten in allen seinen Gliedern. Er litt am Haupte durch die stechenden Dornen; in Händen und Füßen durch die scharfen Nägel; im Antlitze durch Speichel und Faustschläge; im ganzen Leibe durch die Geißelschläge. Er litt am Tastsinne, weil gegeißelt und mit Nägeln durchbohrt; am Geschmacksinne, weil mit Galle und Essig getränkt; am Geruchsinne, weil aufgehängt am Kreuze auf der Schädelstätte, dem Platze für die Leichname; am Gehörsinne, durch die gräßlichsten Schmähworte und das Geheul des Volkes; am Gesichtssinne, sehend die Mutter und den Jünger, „den Er liebte,“ wie sie weinten
c) I. Ist im letztgenannten Sinne zu verstehen. II. Die Ähnlichkeit liegt hier nicht in der Zahl, sondern in der Größe und Tiefe seines Leidens. Wie Er nämlich über alle erhaben war in Gnade und Wissenskraft; so war Er unter alle gedemütigt im Leiden. III. Genügt hätte der Gerechtigkeit das geringste Leiden des Gottessohnes; seine Liebe aber wollte alle Leiden für uns annehmen.
