Achter Artikel. Die ganze Seele Christi genoß im Leiden der seligen Anschauung.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Die ganze Seele litt. Also konnte nicht zugleich die ganze Seele sich freuen. II. „Ist die Trauer sehr heftig, so hindert sie jedes Ergötzen“ (7 Ethic.ult.); und umgekehrt. Der Schmerz Christi aber war der größte. Also war da in der Seele gar keine Freude. III. Die selige Anschauung besteht im Anschauen und Lieben Gottes. Daran nehmen aber die niederen Seelenkräfte nicht teil. Also war nicht die ganze Seele beschäftigt mit der seligen Anschauung und deren Genuß. Auf der anderen Seite sagt Damascenus (3. de orth fide 15.): „Die Gottheit ließ das Fleisch wirken und leiden das, was demselben eigens zukam.“ Da also es eigen zukam der Seele, insoweit sie selig war, zu genießen der Anschauung Gottes, hinderte das Leiden, also das Fleisch, aus gleichem Grunde nicht solchen Genuß.
b) Ich antworte; wird die Seele hier ihrem Wesen nach verstanden, so genoß die ganze Seele der göttlichen Anschauung; denn ihrem Wesen nach ist sie ganz und gar Subjekt oder Träger des Vernunftvermögens, dessen eigenster Gegenstand in Christo war das geschaute Wesen Gottes. Wie also auf Grund des Wesens der Seele das Leiden diesem höheren Teile der menschlichen Seele zukommt; so, aus demselben Grunde, kommt der ganzen Seele der Genuß der göttlichen Anschauung zu mit Rücksicht auf den höheren Teil, das Vernunftvermögen. Wird aber die Seele als ganz bezeichnet unter dem Gesichtspunkte der Seelenvermögen, so genoß nicht die ganze Seele der Anschauung Gottes; denn solche ist nicht der eigene Gegenstand eines jeden Seelenvermögens. Und auch das Überfließen vom höheren Teile auf den niedrigeren sinnlichen fand nicht statt während des Pilgerns Christi. Weil aber der höhere Teil der Seele nicht in der ihm eigenen Thätigkeit gehindert wurde durch den niederen, so folgt, daß dieser höhere Teil vollkommen der seligen Anschauung genoß
c) I. Die Freude der Anschauung ist nicht direkt entgegengesetzt dem Schmerze des Leidens; denn der Gegenstand ist nicht der nämliche. Gegensätzliches aber, wenn es nicht unter dem Gesichtspunkte des Gegensätzlichen genommen wird, kann ganz wohl ein und demselben Subjekte innewohnen. Und so gehört die Freude der Anschauung dem höheren Teile an, soweit die eigene Thätigkeit in Betracht kommt; der Schmerz des Leidens aber, so weit das Subjekt, das Wesen der Seele, in Betracht kommt. Zum Wesen der Seele aber steht der Schmerz nicht unter dem gleichen Gesichtspunkte in Beziehung, sondern mit Rücksicht auf den Körper, dessen bethätigende Wesensform sie ist, und nicht mit Rücksicht auf den höheren Teil, wo die Freude ist. II. Das Wort des Aristoteles bezieht sich auf das Überfließen des Thätigseins der einen Kraft in das Thätigsein der anderen; was hier in Christo nicht stattfand. III. Der Einwurf betrifft die ganze Seele mit Rücksicht auf die Vermögen.
