I. Kapitel: Von Paulinus, Bischof von Nola
Gregorius. Während ich mich ganz den Vätern, die uns zeitlich nahe stehen, zuwandte, habe ich die Taten der früheren aus dem Auge gelassen, so daß uns das Wunderleben des Paulinus, Bischofs von Nola,1 der viele der erwähnten Männer an Wunderkraft und Alter überragt, ganz aus dem Gedächtnis entschwunden zu sein scheint. Jetzt aber will ich wieder auf frühere Geschehnisse zurückgreifen und werde mich in der Erzählung möglichst kurz fassen. Da die Kunde von den Werken guter Männer schnell zu Gleichgesinnten dringt, erlangte der genannte ehrwürdige Mann bei unseren Altvordern, die ja mitten unter den Wundertaten der Gerechten lebten, einen berühmten Namen; sein wunderbares Wirken trug sehr viel zum Tugendeifer der Männer bei, deren ehrwürdigem Alter ich so sicheren Glauben schenken mußte, als ob ich das Erzählte mit eigenen Augen gesehen hätte.
In jener Zeit, als durch die grimmigen Vandalen Italien in der Gegend von Kampanien völlig entvölkert wurde und viele von da nach Afrika in die Sklaverei geschleppt wurden, verschenkte der Mann Gottes Paulinus alles, was ihm zum bischöflichen Haushalt zur Verfügung stand, an die Gefangenen und Notleidenden. S. 107 Als nun gar nichts mehr übrig war, was er den Bittenden hätte geben können, kam eines Tages eine Witwe zu ihm und klagte, daß ihr Sohn von dem Schwiegersohn des Vandalenkönigs in die Sklaverei entführt worden sei; sie bat den Mann Gottes um das Lösegeld für ihn, wenn etwa sein Herr dies annehmen und ihn wieder heimziehen lassen wollte. Der Mann Gottes sah nach, was er der Frau auf ihr inständiges Bitten hin geben könnte, fand aber nichts anderes als sich selbst und sagte zum flehenden Weibe: „Frau, ich habe nichts, was ich dir geben könnte, aber nimm mich selbst, sage, ich sei dein Sklave und schicke mich für deinen Sohn in die Sklaverei, damit du diesen wieder zurückerhältst.” Als sie diese Worte aus dem Munde eines so hohen Mannes vernahm, hielt sie dies mehr für Spott als für Mitleid. Er aber war sehr redegewandt und auch in weltlichen Dingen wohlunterrichtet und überredete die zweifelnde Frau rasch, das Gehörte zu glauben und unbedenklich den Bischof in die Sklaverei zu schicken, um den Sohn wiederzugewinnen. Beide reisten also nach Afrika. Die Witwe stellte sich mit ihrem Gesuche des Königs Schwiegersohn, der ihren Sohn hatte, in den Weg und bat zuerst, er möge ihr den Sohn herausgeben. Der Barbar war voll des Hochmuts und vor Freude über das wandelbare Glück ganz aufgeblasen und wollte die Witwe nicht einmal anhören, geschweige denn ihre Bitte erfüllen. Da fuhr sie fort: „Sieh, ich biete dir diesen Mann als Stellvertreter für ihn an, nur habe Mitleid mit mir und gib mir meinen einzigen Sohn wieder!” Als er das schöne Antlitz des Mannes sah, fragte er ihn, was er denn für ein Handwerk verstehe. Paulinus, der Mann Gottes, antwortete darauf: „Ein Handwerk verstehe ich zwar nicht, aber einen Garten weiß ich gut zu versehen.” Als der Barbar hörte, daß der Mann Gemüse ziehen könne, ging er bereitwillig auf den Vorschlag ein. Er nahm ihn also als Sklaven an und gab der Witwe ihren Sohn zurück. Diese nahm ihn in S. 108 Empfang und reiste von Afrika ab. Paulinus aber übernahm die Pflege eines Gartens. Der Schwiegersohn des Königs kam häufig in den Garten und richtete mancherlei Fragen an seinen Gärtner. Da er sah, daß dieser ein sehr weiser Mann war, vernachlässigte er allmählich seine Freunde und Hausgenossen, besprach sich sehr oft mit dem Gärtner und fand Gefallen an seinen Reden. Paulinus dagegen brachte ihm täglich wohlriechende und frische Kräuter zur Tafel, nahm dafür ein Brot in Empfang und zog sich wieder in seinen Garten zurück. Dies ging längere Zeit so fort. Da sagte er eines Tages zu seinem Herrn, als dieser sehr vertraulich mit ihm sprach: „Siehe zu, was du tun willst, und trag Sorge für die Verwaltung des Vandalenreiches; denn der König wird sehr bald und sehr rasch sterben.” Weil jener vom König mehr als andere geliebt wurde, verhehlte er ihm das Gespräch nicht, sondern teilte ihm mit, was er von seinem Gärtner, der ein sehr weiser Mann sei, gehört habe. Darauf erwiderte der König: „Ich möchte den Mann, von dem du sprichst, gerne sehen.” Darauf entgegnete ihm sein Schwiegersohn, der Herr des ehrwürdigen Paulinus: „Er bringt mir immer frische Kräuter zum Frühmahl; ich werde ihn diese also hierher zur Tafel bringen lassen, damit du siehst, wer mir das gesagt hat.” Und so geschah es. Als der König sich zum Mahl niedergelassen hatte, kam Paulinus und brachte von seiner Arbeit wohlriechende und frische Kräuter. So wie der König ihn erblickte, schrak er zusammen; er ließ dessen Herrn, der ihm durch seine Tochter sehr nahe stand, zu sich herkommen und teilte ihm etwas Verborgenes mit, das er ihm bisher verheimlicht hatte. „Ja, es ist wahr”, sagte er, „was du gehört hast; denn ich sah heute nacht im Traume, wie Richter, auf ihren Stühlen sitzend, über mich Gericht hielten, und unter ihnen befand sich auch dieser da; es wurde mir auf ihren Urteilsspruch hin die Geißel, die ich einst erhalten hatte, genommen. Frage ihn aber nun, wer er sei; S. 109 denn ich glaube nicht, daß dieser hochverdiente Mann dem niedern Volke, wie es scheinen möchte, angehört.” Daraufhin nahm des Königs Schwiegersohn den Paulinus heimlich beiseite und frug ihn, wer er denn sei. Der Mann Gottes antwortete ihm auf diese Frage: „Ich bin dein Sklave, du hast mich für den Sohn der Witwe angenommen.” Inständig drang aber jener darauf, er solle ihm doch sagen, nicht was er jetzt sei, sondern was er in seinem Heimatlande gewesen sei. Da er dies durch wiederholtes, beständiges Fragen von ihm zu erfahren verlangte, konnte der Mann Gottes, durch die vielen Beschwörungen bezwungen, es nicht mehr länger verschweigen, sondern offenbarte, daß er ein Bischof sei. Als der Herr dies hörte, befiel ihn eine große Furcht, und er bot ihm in aller Demut an: „Verlange, was du willst, und du sollst reich beschenkt von mir in deine Heimat zurückkehren.” Darauf entgegnete ihm Paulinus, der Mann Gottes: „Eine Wohltat gibt es, die du mir erweisen kannst, daß du nämlich alle Gefangenen aus meiner Stadt frei lässest.” Diese wurden sofort alle in Afrika zusammengesucht und, um dem ehrwürdigen Manne Gottes Paulinus einen Gefallen zu erweisen, mit ihm als sein Geleit auf Getreideschiffen in die Freiheit entlassen. Wenige Tage darnach aber starb der Vandalenkönig und verlor die Geißel, die er durch Gottes Fügung zu seinem eigenen Verderben und zur Züchtigung der Gläubigen empfangen hatte. So also hat Paulinus, der Diener des allmächtigen Gottes, Wahres vorhergesagt und hat dadurch, daß er sich allein in die Sklaverei begab und mit vielen aus der Knechtschaft in die Freiheit zurückkehrte, denjenigen nachgeahmt, der Knechtsgestalt annahm, damit wir nicht Knechte der Sünde seien. In seine Fußstapfen tretend, machte sich Paulinus vorübergehend freiwillig zum Sklaven, um nachher frei zu werden mit vielen.
Petrus. Wenn ich so anhöre, was ich nicht nachahmen kann, möchte ich lieber weinen als etwas sagen. S. 110
Gregorius. Was noch seinen Tod betrifft, so findet sich bei seiner Kirche die Aufzeichnung, daß er von einem Schmerz in der Seite ergriffen wurde und daß er dadurch dem Ende nahe kam. Während nun sein ganzes Haus fest stehen blieb, erzitterte das Zimmer, in dem er krank darniederlag, durch ein Erdbeben, und alle, die anwesend waren, wurden mit ungeheurem Schrecken erfüllt. So löste sich diese heilige Seele vom Leibe. Und es geschah, daß eine große Angst alle jene befiel, die den Tod des Paulinus hatten mitansehen können. Doch da dieses Wunder des Paulinus2 rein innerlichen Charakter hat, so laß uns jetzt, wenn es dir angenehm ist, zu äußeren Wundern übergehen, welche vielen schon bekannt sind, und die ich von so frommen Männern gehört habe, daß ich unmöglich daran zweifeln kann.