XIV. Kapitel: Von dem Diener Gottes Isaac1
Gregorius. Anfangs der Gotenzeit war nahe bei Spoleto ein Mann von ehrwürdigem Lebenswandel namens Isaac, der beinahe bis zum Ende der Gotenzeit lebte. Viele von uns haben ihn gekannt, besonders die gottgeweihte Jungfrau Gregoria, die jetzt hier in Rom S. 127 bei der Kirche der seligen und immerwährenden Jungfrau Maria wohnt. Als sie in ihrer Jugendzeit in die Kirche floh, während man für sie die Hochzeit vorbereitete, und nach dem Ordensstande Verlangen trug, nahm sich dieser Mann ihrer an und führte sie mit Gottes Hilfe dem von ihr ersehnten Berufe zu. Weil sie hier auf Erden einen Bräutigam floh, verdiente sie, einen Bräutigam im Himmel zu haben. Vieles habe ich aber auch über diesen Mann von dem ehrwürdigen Vater Eleutherius gehört, der ihn gleichfalls genau kannte, und bei dem das Leben die Wahrheit seiner Worte bestätigte. Dieser ehrwürdige Isaac stammte nicht aus Italien; ich erzähle aber nur jene Wunder, die er in Italien wirkte. Er war kaum aus einer Gegend Syriens nach Spoleto gekommen, als er in der Kirche von den Kirchendienern sich die Erlaubnis erbat, solange, als er wolle, darin beten zu dürfen; auch möchten sie ihn nicht nötigen, in den einsamen Stunden die Kirche zu verlassen. Sogleich stellte er sich zum Gebete hin, verweilte den ganzen Tag im Gebete und setzte es auch noch in der folgenden Nacht fort. Auch den andern Tag und die darauffolgende Nacht verharrte er, ohne zu ermüden, im Gebete, ja sogar den dritten Tag fügte er noch im Gebete hinzu. Einer von den Dienern, der vom Geiste des Hochmuts erfüllt war, beobachtete das, und was ihm hätte zum Nutzen sein können, wurde für ihn zum Schaden und Nachteil. Denn er nannte ihn einen Scheinheiligen und schalt ihn in roher Weise einen Betrüger, weil er sich in den Augen der Menschen den Anschein gebe, als habe er drei Tage und drei Nächte gebetet. Ja, er lief auf ihn zu und gab dem Manne Gottes eine Ohrfeige, damit er wie einer, der das fromme Leben nur heuchelt, schmachvoll die Kirche verlasse. Aber sofort fuhr ein rächender Geist in ihn, warf ihn vor den Füßen des Mannes Gottes nieder und rief durch seinen Mund: „Isaac treibt mich aus!” So verriet der böse Geist den Namen des Fremden, von dem niemand S. 128 wußte, wie er hieß. Der Mann Gottes legte sich sogleich über den Leib des Gequälten, und der böse Geist, der in diesen gefahren war, verließ ihn. Alsbald wurde es in der ganzen Stadt bekannt, was in der Kirche sich zugetragen. Männer und Frauen, Vornehme und Niedrige eilten herbei und stritten sich darum, wer ihn mit nach Hause nehmen dürfe; die einen wollten dem Mann Gottes zur Erbauung eines Klosters Güter anbieten, andere Geld, wieder andere alle ihnen nur mögliche Unterstützung. Aber der Diener des allmächtigen Gottes nahm nichts von diesen Dingen an, verließ die Stadt, fand nicht weit davon einen einsam gelegenen Ort und baute sich dort eine armselige Wohnung. Viele kamen zu ihm, ließen sich durch sein Beispiel zur Sehnsucht nach dem ewigen Leben entflammen und begaben sich unter seiner Leitung in den Dienst des allmächtigen Gottes. Oft drangen seine Schüler demütig in ihn, er möge doch zum Besten des Klosters die Besitzungen annehmen, die ihm angetragen wurden; er aber wachte sorgfältig über seine Armut und hielt standhaft an dem Ausspruch fest: Ein Mönch, der auf Erden Besitztum sucht, ist kein Mönch. Er fürchtete nämlich so in ähnlicher Weise seine Ruhe zu verlieren, die für ihn in der Armut lag, wie reiche Geizhälse, die ihre vergänglichen Güter bewachen. Wegen des Geistes der Weissagung und wegen seiner großen Wunder wurde sein Leben weit und breit bei allem Volke berühmt. So ließ er eines Tages gegen Abend eiserne Geräte, Spaten genannt, in den Klostergarten werfen. Er sagte zu seinen Jüngern: „Werfet so und so viele Spaten in den Garten und kehret gleich wieder zurück!” Als er in derselben Nacht wie gewöhnlich mit seinen Brüdern zum Lob Gottes aufstand, befahl er ihnen: „Gehet und kochet für unsere Arbeiter ein Essen, damit es in der Frühe bereit ist.” Als der Morgen anbrach, ließ er das Essen, das er hatte bereiten lassen, bringen, ging mit den Brüdern in den Garten und fand dort ebensoviele Arbeiter, als er Spaten hatte S. 129 hineinwerfen lassen. Es waren nämlich Diebe eingedrungen, aber durch den Geist wurde ihre Absicht geändert, so daß sie die Spaten ergriffen und von der Stunde an, zu der sie kamen, bis der Mann Gottes zu ihnen trat, alle noch unbebauten Stellen des Gartens umgruben. Als der Mann Gottes zu ihnen eintrat, sprach er: „Brav, Brüder, ihr habt viel gearbeitet, ruht euch jetzt aus!” Und er gab ihnen das Essen, das er mitbrachte, und erquickte sie nach der ermüdenden Arbeit. Als sie genug gegessen hatten, sprach er zu ihnen: „Tuet nichts Böses, sondern so oft ihr etwas aus dem Garten wollet, kommt an die Gartentür und bittet anständig darum; nehmet es mit dem Segen in Empfang und lasset ab von der Sünde des Diebstahls!” Darauf nahm er von dem Gemüse und bepackte sie damit. Also geschah es, daß die, welche mit der Absicht, Schaden zu tun, in den Garten gekommen waren, mit einem Arbeitslohn, gesättigt und ohne Schuld heimkehren konnten.
Einmal kamen zu ihm arme, bettelnde Reisende mit zerrissenen Kleidern und nur notdürftig mit Tüchern bedeckt, so daß sie beinahe nackt schienen. Als sie ihn um Kleider baten, hörte der Mann des Herrn schweigend ihren Worten zu. Er ließ dann ganz in der Stille einen seiner Schüler kommen und befahl ihm: „Gehe und suche in dem Wald an dem und dem Ort einen hohlen Baum und bringe die Kleider, die du dort findest, hierher!” Der Schüler ging und suchte den Baum, wie ihm befohlen war. Er fand dort wirklich Kleider und brachte sie verstohlen seinem Meister. Der Mann Gottes nahm sie, zeigte sie den nackten bettelnden Reisenden und gab sie ihnen mit den Worten: „Kommet, weil ihr nackt seid; sehet her, nehmet und bekleidet euch!” Als sie die Kleider ansahen, erkannten sie, daß es ihre eigenen Kleider waren, die sie dort versteckt hatten, und waren vor Beschämung ganz außer sich. Die also betrügerischerweise andere Kleider gebettelt hatten, erhielten ihre eigenen mit Schande zurück. S. 130
Wieder einmal empfahl sich jemand seinem Gebet und schickte ihm durch einen Knecht zwei Körbe voll Nahrungsmittel. Einen davon aber veruntreute der Knecht und versteckte ihn auf dem Wege; den andern brachte er zum Mann Gottes und richtete ihm die Bitte seines Herrn aus, der sich ihm durch das Geschenk empfehlen ließ. Der Mann Gottes nahm das Geschenk gnädig auf und warnte den Knecht mit den Worten: „Wir lassen danken, gib aber acht, daß du den Korb, den du auf dem Weg beiseitegestellt hast, nicht unvorsichtig anrührest, denn es ist eine Schlange hineingekrochen. Sei also vorsichtig, damit du nicht, wenn du ihn unbedachtsam aufheben willst, von der Schlange gebissen wirst!” Über diese Worte kam der Knecht sehr in Verlegenheit; er freute sich zwar, dem Tode entgangen zu sein, war aber doch eine Zeitlang traurig, weil er zu der heilsamen Strafe auch eine Beschämung davontrug. Zum Korbe zurückgekommen, gab er gar vorsichtig und behutsam acht, aber es war schon eine Schlange darinnen, wie der Mann Gottes es vorher gesagt hatte. Während nun dieser Mann die Tugend der Enthaltsamkeit und der Verachtung des Irdischen, die Gaben der Weissagung und des Gebetes in unvergleichlichem Grade besaß, war dennoch ein Punkt an ihm, den man hätte tadeln können. Er war nämlich manchmal so fröhlich, daß niemand, wenn man es nicht gewußt hätte, an die Fülle seiner Gnaden geglaubt haben würde.
Petrus. Wie erklären wir dies, ich bitte dich? Ließ er geflissentlich der Freude die Zügel schießen oder wurde seine tugendstrahlende Seele manchmal wider Willen zu irdischer Freude herabgezogen?
Gregorius. Es ist etwas Großartiges, Petrus, um die Gnadenausteilung des allmächtigen Gottes; oftmals versagt er solchen, denen er Großes gegeben hat, etwas Geringeres, damit ihre Seele immer einen Grund hat, mit sich unzufrieden zu sein. Denn indem sie so S. 131 einerseits nach Vollkommenheit streben, ohne sie erreichen zu können, und sich um das bemühen, was ihnen nicht verliehen wurde, ohne daß sie in ihrem Bemühen großen Erfolg haben, dürfen sie anderseits sich wegen ihrer Gnadengaben nicht überheben, sondern sollen eingedenk sein, daß sie aus sich selbst höhere Güter nicht haben können, wenn sie nicht einmal die kleinen und letzten Fehler an sich besiegen können. Deshalb hat der Herr, nachdem er sein Volk in das Land der Verheißung geführt hatte, zwar all seine starken und mächtigen Gegner vertilgt, die Philister und Kananaer aber länger bestehen lassen, damit, wie geschrieben steht, er an ihnen Israel erprobe;2 denn bisweilen läßt er, wie gesagt, an solchen, denen er Großes gegeben, noch einige kleine, tadelnswerte Seiten, damit sie immer etwas zu bekämpfen haben und damit sie nach einem Siege über ihre großen Feinde den Kopf nicht hochtragen, wenn ihnen immer noch ganz winzige Gegner zu schaffen machen. So strahlt merkwürdiger Weise deshalb eine und dieselbe Seele voll von Tugenden und leidet dennoch unter einer Schwachheit, damit sie einesteils fest gebaut sei, andernteils sich zerstört sehe; auf diese Weise wird sie wegen des Guten, das sie anstrebt und nicht erlangen kann, das, was sie wirklich hat, demütiglich bewahren. Aber was Wunder, daß wir dies von Menschen sagen, da auch das himmlische Reich teilweise an seinen Bewohnern Verluste erlitt, teilweise feststand, so daß die auserwählten Engelgeister, während sie sahen, wie andere durch ihren Stolz fielen, selbst um so fester standen, je demütiger sie waren. Auch jenem Reiche also war sein Schaden zum Nutzen, da es gerade durch jene Zerstörung um so fester für seinen ewigen Bestand gefügt wurde. So kommt es bei jeder Seele vor, daß sie zur Bewahrung der Demut manchmal erst durch einen kleinen Schaden zu großem Gewinne gelangt.
Petrus. Diese deine Erklärung gefällt mir. S. 132