XV. Kapitel: Von den Dienern Gottes Florentius und Eutychius
Gregorius. Ich möchte nicht mit Stillschweigen übergehen, was mir von jener Gegend der ehrwürdige Priester Sanktulus erzählt hat. An seinen Worten zweifelst auch du nicht, da dir sein Leben und seine Glaubwürdigkeit hinlänglich bekannt sind.
Zu derselben Zeit wohnten in der Provinz Nursia zwei Männer, die in Handel und Wandel mitsammen ein klösterliches Leben führten; der eine von ihnen hieß Eutychius, der andere Florentius. Eutychius ragte durch Geistesglut und Tugendeifer hervor und war unablässig tätig, viele Seelen durch gute Ermahnungen zu Gott zu führen, Florentius aber führte in Herzenseinfalt ein dem Gebete gewidmetes Leben. Nicht weit von ihnen war ein Kloster, das durch den Tod seines Vorstehers verwaist wurde, weshalb die Mönche den Eutychius zum Vorsteher haben wollten. Er gab ihren Bitten nach, regierte das Kloster viele Jahre hindurch und übte die Seelen seiner Jünger im eifrigen Ordensleben. Damit aber das Kirchlein, bei dem er früher gewohnt hatte, nicht verlassen stehe, ließ er den ehrwürdigen Florentius dort zurück. Als dieser dort so allein wohnen mußte, warf er sich eines Tages zum Gebete nieder und bat den allmächtigen Gott, er möge ihm in seiner Einsamkeit irgendeinen Trost schenken. Sowie er das Gebet beendigt hatte und aus dem Kirchlein heraustrat, fand er vor der Türe einen Bären stehen; der neigte seinen Kopf gegen den Boden und verriet gar nichts Wildes in seinem Gebaren. Deutlich gab er dadurch zu verstehen, daß er zum Dienste des Mannes Gottes gekommen, was der Mann Gottes auch sogleich erkannte. Und da bei jener Zelle noch vier oder fünf Schafe da waren, die niemanden hatten, der sie auf die Weide trieb und hütete, befahl er dem Bären: „Geh’ und treibe S. 133 die Schafe auf die Weide, um die sechste Stunde aber komm wieder heim!” Das besorgte der nun treulich. So wurde der Bär als Hirte eingestellt und weidete jetzt nüchternen Magens die Schafe, die er früher fraß. Wenn der Mann Gottes fasten wollte, trug er dem Bären auf, um die neunte Stunde heimzukommen, wenn er nicht fasten wollte, um die sechste. So sehr gehorchte der Bär in allem dem Gebote des Gottesmannes, daß er weder um die sechste Stunde zurückkam, wenn ihm die neunte, noch um die neunte, wenn ihm die sechste Stunde befohlen war. Da dies lange Zeit so fortging, verbreitete sich die Kunde von diesem Wunder allmählig weithin in jener Gegend. Der alte Feind aber zieht gerade damit die Bösen durch ihren Neid in die ewige Pein, worin er die Guten zur ewigen Herrlichkeit erglänzen sieht. Darum ergriff vier Jünger des ehrwürdigen Eutychius ein grimmiger Neid, weil ihr Meister keine Wunder wirkte, während der, der allein gelassen worden war, durch dieses große Wunder berühmt wurde. Darum stellten sie dem Bären nach und brachten ihn um. Als er zur bestimmten Stunde nicht heimkam, schöpfte der Mann Gottes Florentius Verdacht; er wartete auf ihn bis zur Abendstunde und wurde traurig, weil der Bär, den er in großer Einfalt seinen Bruder nannte, nicht heimkehrte.” Am andern Tage ging er aufs Feld, um den Bären und die Schafe zu suchen; da fand er ihn erschlagen. Auf genaue Nachfrage hin erfuhr er bald, wer ihn umgebracht hatte. Da brach er in Tränen aus und beweinte mehr die Bosheit der Brüder als den Tod des Bären. Der ehrwürdige Eutychius ließ ihn zu sich kommen und suchte ihn zu trösten; aber der Mann Gottes stieß vor ihm, vom Stachel heftigen Schmerzes überwältigt, den Fluch aus: „Ich hoffe zu Gott, dem Allmächtigen, daß vor aller Augen und noch in diesem Leben diejenigen die Strafe für ihre Bosheit empfangen, die meinen Bären erschlagen haben, der ihnen nichts zu leide tat!” Auf diese seine Worte folgte alsbald die S. 134 Rache Gottes. Die vier Mönche, die den Bären getötet hatten, wurden sogleich von der Elephantiasis befallen, so daß ihre Glieder zu faulen anfingen und sie daran sterben mußten. Über dieses Eintreffen erschrak der Mann Gottes Florentius heftig und fürchtete sich, und all sein Lebtag beweinte er es, daß er erhört wurde und nannte sich ihres Todes halber einen grausamen Mörder. Wir glauben, daß der allmächtige Gott dies so kommen ließ, damit ein Mann von so wunderbarer Herzenseinfall nie mehr wage, auch nicht in größtem Schmerze, einen Fluch auf jemanden zu schleudern.
Petrus. Müssen wir annehmen, daß das eine sehr schwere Sünde ist, wenn wir etwa jemand, der uns reizt, im Zorne fluchen?
Gregorius. Wie kannst du mich noch fragen, ob das eine schwere Sünde ist, da doch Paulus sagt: „Auch die fluchen, werden das Reich Gottes nicht besitzen.”1 Bedenke also, wie schwer eine Schuld ist, die vom Reiche des Lebens ausschließt!
Petrus. Wie aber, wenn der Mensch vielleicht nicht aus Bosheit, sondern aus Mangel an Wachsamkeit über die Zunge ein Fluchwort auf den Nächsten schleudert?
Gregorius. Wenn, Petrus, bei dem strengen Richter schon ein müßiges Wort Tadel findet, wievielmehr ein schädliches? Bedenke also, wie verdammungswürdig derjenige sei, der von Bosheit nicht frei ist, wenn schon ein unnützes Wort strafbar ist.
Petrus. Ich stimme dir bei.
Gregorius. Derselbe Mann Gottes vollführte noch ein anderes Werk, das man nicht verschweigen darf. Als nämlich sein großer Ruf sich weithin verbreitete, wollte ein Diakon aus weiter Ferne zu ihm kommen, um sich seinem Gebete zu empfehlen. Als er zu seiner kleinen Zelle kam, fand er, daß der ganze Platz um und um voll von unzähligen Schlangen war. Er erschrak darob heftig und schrie: „Diener Gottes, bete!” Es war S. 135 aber zu der Zeit der Himmel ganz heiter. Florentius kam heraus, erhob Augen und Hände zum Himmel und betete, der Herr möge diese Pest, wie er es für gut fände, hinwegnehmen. Nach diesen Worten donnerte es heftig am Himmel und dieser Donner tötete alle die Schlangen, die sich dort befanden. Als der Mann Gottes Florentius sah, daß sie tot waren, sagte er: „Ja, o Herr, du hast sie getötet, wer aber räumt sie nun weg?” Sogleich flogen auf dies Wort soviele Vögel herbei, als Schlangen getötet waren; jeder trug eine fort und ließ sie weit weg fallen; so säuberten sie seine Wohnstätte gänzlich von den Schlangen.
Petrus. Welcher Kraft oder welchem Verdienste müssen wir es zuschreiben, daß seinem Wort der allmächtige Gott so sehr gewogen war?
Gregorius. Bei der vollkommenen Reinheit des allmächtigen Gottes und bei der Einfachheit seiner Natur, o Petrus, vermag viel die Reinheit und Einfalt des menschlichen Herzens. Schon dadurch, daß seine Diener sich von irdischen Geschäften fernhalten, nichts Müßiges reden und es vermeiden, den Geist durch Reden zu zerstreuen und zu verunreinigen, erlangen sie vor andern Erhörung beim Schöpfer. Sie stimmen mit ihm, soweit es möglich ist, gerade durch die Reinheit und die Einfalt ihres Denkens wie infolge einer gewissen Ebenbildlichkeit überein. Wenn wir dagegen unter dem großen Haufen oftmals müßige, manchmal aber auch schwer sündhafte Reden führen, entfernt sich unsere Rede um so mehr von Gott, je mehr sie sich dieser Welt nähert; denn es zieht unsere Seele nach abwärts, wenn wir immer mit Weltleuten im mündlichen Verkehr stehen. Das hat Isaias, nachdem er den Herrn, den König der Heerscharen geschaut, zutreffend an sich selbst getadelt und bereut mit den Worten: „Wehe mir, daß ich geschwiegen habe, weil ich ein Mann von unreinen Lippen bin!”2 Warum er unreine Lippen hat, tut er kund, indem er S. 136 beifügt: „Unter einem Volke von unreinen Lippen wohne ich.”3 Es schmerzte ihn, daß er unreine Lippen hatte; woher ihm diese gekommen, gibt er an, wenn er sagt, daß er inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne. Es ist sehr schwer, daß die Zunge der Weltleute die Seele, mit der sie in Berührung kommt, nicht beflecke; denn wir lassen uns meistens aus einer gewissen Nachgiebigkeit mit ihnen in Gespräche ein; haben wir uns dann allmählig daran gewöhnt, behalten wir die unser unwürdige Unterhaltung mit einer gewissen Freude bei, so daß wir uns nicht mehr von ihr zurückziehen wollen, während wir anfangs uns durch unsere Nachgiebigkeit wider unsern Willen dazu hatten verleiten lassen. So geschieht es, daß wir von müßigen zu schädlichen, von unbedachten zu schwer sündhaften Worten kommen und unsere Stimme vom allmächtigen Gott beim Gebet um so weniger erhört wird, je mehr sie durch törichte Redeweise verunreinigt ist; denn es steht geschrieben: „Wer seine Ohren abwendet, daß er das Gesetz nicht höre, dessen Gebet wird ein Greuel sein.”4 Was Wunder also, daß wir in unserm Gebete langsam beim Herrn Erhörung finden, wenn wir auf die Gebote des Herrn nur langsam oder gar nicht hören? Und was Wunder, daß Florentius in seinem Gebete so schnell erhört wurde, der dem Gebote des Herrn so schnell gehorchte?
Petrus. Es läßt sich mehr dagegen einwenden, daß dies der wirkliche Grund ist.
Gregorius. Eutychius5 aber, der des genannten Florentius Genosse auf dem Wege des Herrn gewesen, wurde durch seine Wunderkraft nach seinem Tode hochberühmt. Obwohl die Bürger jener Stadt viele Wunder von ihm zu erzählen pflegen, so ist doch dies das hervorragendste, das bis zur Langobardenzeit der allmächtige Gott beständig durch sein Gewand zu wirken sich würdigte. Denn so oft der Regen ausblieb und S. 137 infolge der langen Trockenheit eine große Hitze den Boden ausbrannte, versammelten sich die Bürger jener Stadt, nahmen sein Gewand und stellten es im Angesichte des Herrn unter Gebet aus. Wenn sie mit ihm betend durch die Fluren zogen, kam plötzlich ein Regen, der das Erdreich vollauf tränken konnte. Daraus ist ersichtlich, wie viel Tugend und Verdienst seine Seele innerlich besessen haben mußte, da sein Kleid, bloß äußerlich gezeigt, den Zorn des Schöpfers abwendete.