XXXVII. Kapitel: Von Sanktulus, einem Priester aus der Provinz Nursia
Vor ungefähr vierzig Tagen hast du bei mir auch den schon früher1 genannten ehrwürdigen Priester Sanktulus gesehen, der alle Jahre aus der Provinz Nursien zu mir kam. Vor drei Tagen traf aus dieser Provinz ein Mönch ein, der mich durch seine traurige Botschaft in Leid versetzte; er berichtete mir nämlich, daß dieser Mann gestorben ist. Obwohl ich mich nur unter Seufzen an das liebenswürdige Wesen dieses Mannes erinnern kann, so erzähle ich doch ohne Furcht die Wunder, die ich von Priestern aus seiner Nachbarschaft, sehr wahrheitsliebenden und einfachen Männern, erfahren habe. Und wie denn unter sich liebenden Seelen die Vertraulichkeit der Liebe kühn macht, so wurde er auch von mir oft in seiner guten Laune gestört und gezwungen, S. 176 wenigstens ein bißchen von seinen Wundertaten zu erzählen. Als nämlich einmal Langobarden Oliven zu pressen suchten, um das Öl herausfließen zu lassen, brachte er in seiner strahlenden Herzensfröhlichkeit einen leeren Schlauch herbei, grüßte die Langobarden bei ihrer Arbeit mit heiterer Miene, hielt den Schlauch hin und sagte mehr in befehlendem als bittendem Tone, man solle ihm den Schlauch füllen. Aber die heidnischen Leute, die sich schon den ganzen Tag vergeblich abgemüht hatten und mit ihrem Drehen kein Öl aus den Oliven gewinnen konnten, nahmen seine Worte übel auf und schmähten über ihn. Darauf wurde die Miene des Mannes Gottes nur noch vergnügter, und er erwiderte ihnen: „Daß ihr so für mich beten würdet! Füllet dem Sanktulus den Schlauch, dann geht er wieder!” Da sie nun aus den Oliven kein Öl fließen sahen, anderseits aber merkten, daß der Mann Gottes auf der Füllung seines Schlauches bestand, wurden sie sehr zornig und schmähten und beschimpften ihn noch mehr. Als aber der Mann Gottes sah, daß aus der Presse auch nicht ein Tropfen Öl herauskam, bat er um Wasser, segnete es und schüttete es mit eigener Hand in die Presse. Auf diese Segnung hin quoll alsogleich eine so reichliche Fülle von Öl heraus, daß die Langobarden, die vorher lange vergeblich gearbeitet hatten, nicht nur alle ihre Gefäße, sondern auch den Schlauch, den der Mann Gottes mitgebracht, anfüllten und sich bedankten, weil derjenige, der um Öl zu bitten gekommen war, durch seinen Segen spendete, um was er bat.
Ein anderes Mal herrschte gerade überall große Hungersnot, und eben war auch die Kirche des heiligen Märtyrers Laurentius von den Langobarden niedergebrannt worden. Der Mann Gottes wollte sie wieder aufbauen und stellte viele Handwerksleute und noch mehr Handlanger ein. Allein diesen Arbeitern mußte der tägliche Unterhalt ohne Aufschub gereicht werden. Aber infolge der Hungersnot fehlte es an Brot, und die S. 177 Arbeitsleute fingen an, dringend nach Nahrung zu verlangen, weil sie vor Hunger keine Kraft zum Arbeiten mehr hätten. Als der Mann Gottes dieses hörte, beschwichtigte er sie äußerlich wohl mit guten Worten und versprach ihnen zu geben, was ihnen abging; innerlich aber hatte er große Angst, weil er das Essen, das er ihnen versprach, nicht liefern konnte. Während er nun in seiner Angst da und dorthin ging, kam er zu einem Backofen, in dem Frauen aus der Nachbarschaft tags vorher ihr Brot gebacken hatten. Er bückte sich und schaute hinein, ob nicht etwa noch ein Brot drinnen geblieben sei. Da fand er plötzlich ein Brot, das ganz besonders groß und ungewöhnlich weiß war. Er nahm es heraus, wollte es aber doch den Bauleuten nicht bringen; denn es konnte jemand andern gehören, und er so gleichsam aus Mitleid eine Sünde begehen. Er trug es darum zu den Frauen in der Nachbarschaft, ließ es überall sehen und fragte, ob es etwa eine von ihnen liegen gelassen habe. Alle aber, die tags vorher gebacken hatten, sagten, es gehöre ihnen nicht, sie hätten ihr Brot vollzählig vom Ofen mit nach Hause gebracht. Da ging der Mann Gottes hocherfreut mit dem einzigen Brote zu seinen Bauleuten heim, forderte sie auf, dem allmächtigen Gott zu danken, und sagte ihnen, daß Gott ihnen Brot gespendet habe. Er lud sie zum Essen ein und setzte ihnen das gefundene Brot vor. Nachdem sie sich hinreichend und vollständig satt gegessen hatten, hob er mehr übrig gebliebene Stücklein auf, als vorher überhaupt Brot dagewesen war. Das setzte er ihnen am andern Tage wieder zum Essen vor; das aber, was von den Stücklein übrig blieb, war wieder mehr, als die vorgesetzten Stücklein mitsammen ausgemacht hatten. So geschah es, daß zehn Tage lang alle diese Bauleute und Arbeiter von jenem einen Brote sich sättigten, es alle Tage verzehrten, und daß täglich von ihm die Nahrung für den folgenden Tag übrig blieb, gerade als ob die Brotstücke durch das S. 178 Essen größer geworden wären, und als ob der Mund beim Essen das Genossene wieder ergänzt hätte.
Petrus. Das ist etwas Wunderbares, und muß all gemein als eine Nachahmung des Wunders unseres Herrn angestaunt werden!
Gregorius. Ja, der Herr selbst hat mit diesem einen Brote viele durch seinen Diener gespeist, er, der in eigener Person fünftausend Menschen mit fünf Broten sättigte, der wenige Samenkörner zu unzählig viel Weizen vermehrt, der auch den Samen aus der Erde entstehen ließ und alles zugleich aus nichts erschaffen hat. Damit du dich aber nicht länger über das wunderst, was der ehrwürdige Sanktulus in der Kraft des Herrn nach außen hin getan hat, so vernimm, wie er durch die Kraft des Herrn innerlich beschaffen gewesen. Eines Tages nämlich wurde von den Langobarden ein Diakon gefangen genommen, gefesselt und in Gewahrsam gehalten, und die, die ihn gefangen hielten, wollten ihn töten. Gegen abend bat Sanktulus, der Mann Gottes, die Langobarden, sie möchten ihn von den Banden befreien und ihm das Leben schenken; sie sagten aber, das könnten sie durchaus nicht tun. Als er sah, daß der Tod des Diakons beschlossene Sache sei, bat er, man möge ihn ihm zur Bewachung überlassen. „Ja”, sagten sie, „wir vertrauen ihn deiner Hut an, jedoch unter der Bedingung, daß du selbst statt seiner sterben mußt, wenn er entfliehen sollte.” Der Mann Gottes ging darauf bereitwillig ein und übernahm die Bewachung des Diakons. Als er nun um Mitternacht alle Langobarden in tiefen Schlaf versunken sah, weckte er ihn auf und sagte zu ihm: „Stehe auf und fliehe eilends davon, Gott der Allmächtige möge dir zur Freiheit verhelfen!” Aber der Diakon erinnerte sich an das gegebene Versprechen und erwiderte ihm: „Mein Vater, ich kann nicht fliehen; denn wenn ich fliehe, so mußt ohne Zweifel du statt meiner sterben!” Sanktulus aber, der Mann Gottes, nötigte ihn zur Flucht und S. 179 sagte: „Stehe auf, gehe, der allmächtige Gott lasse dich entkommen! Ich bin ja in seiner Hand; sie können mir nur soviel tun, als ihnen der Herr gestattet.” Der Diakon ergriff also die Flucht, und Sanktulus blieb wie ein im Stiche gelassener Bürge zurück. Als der Tag anbrach, kamen die Langobarden, die ihm den Diakon zur Obhut übergeben hatten, und verlangten den ihm Anvertrauten; der ehrwürdige Priester aber entgegnete, der sei entflohen. Da sagten sie zu ihm: „Du weißt selbst am besten, was ausgemacht wurde.” Der Diener Gottes aber erwiderte furchtlos: „Ich weiß es.” Darauf sagten sie zu ihm: „Du bist ein guter Mann, wir wollen nicht, daß du auf alle mögliche Art zu Tode gemartert wirst, darum wähle dir selbst eine beliebige Todesart.” Der Mann Gottes erwiderte ihnen: „Ich bin in Gottes Hand; tötet mich auf die Art, wie er es euch gestattet.” Darauf beschlossen alle die anwesenden Langobarden, ihn zu enthaupten, damit er ohne große Qual sein Leben durch einen schnellen Tod beschließe. Als sich nun die Kunde verbreitete, daß Sanktulus, der wegen seiner Heiligkeit sehr in Ehren stand, hingerichtet werden solle, eilten alle Langobarden jenes Ortes - grausam, wie sie sind - vergnügt zum Todesschauspiel herbei. Die ganze Schar stellte sich auf; alsdann wurde der Mann Gottes in ihre Mitte geführt und aus all den starken Männern wurde einer ausgesucht, der ihm ganz sicher mit einem einzigen Streiche das Haupt abschlagen würde. So unter den bewaffneten Männern stehend, nahm der ehrwürdige Mann zu den eigenen Waffen seine Zuflucht: denn er bat, man möge ihm gestatten, ein wenig zu beten. Als man ihm das zugestand, warf er sich zur Erde nieder und betete. Als er etwas länger betete, stieß ihn der, der zum Scharfrichter ausgewählt war, mit dem Fuße, damit er aufstehe, und sagte zu ihm: „Stehe auf, knie dich her und strecke deinen Hals vor!” Der Mann Gottes erhob sich vom Boden, ließ sich auf die Knie nieder und bot seinen Nacken dar. Als er das Schwert S. 180 sah, das wider ihn gezogen wurde, sprach er, wie man allgemein erzählt: „Heiliger Johannes, halte es auf!” Dann hob der Scharfrichter den Arm mit dem bloßen Schwert hoch empor, um einen gewaltigen Streich zu führen, konnte ihn aber nicht mehr niederfallen lassen; denn plötzlich wurde ihm der Arm steif und blieb unbeweglich, indem er das Schwert gegen den Himmel emporhielt. Da brach die ganze Schar der Langobarden, die zu dem Todesschauspiel sich eingefunden hatte, in Lob und Beifall aus und bezeugte ihre Ehrfurcht vor dem Manne Gottes; denn nun war es wirklich klar geworden, wie heilig der war, der seines Henkers Arm in der Luft festgebunden hatte. Sie baten ihn, er solle aufstehen, und er stand auf; als sie ihn aber baten, er möge den Arm des Scharfrichters wieder herstellen, da verweigerte er das und sprach: „Ich bete nicht für ihn, wenn er mir nicht einen Eid leistet, daß er mit dieser Hand keinen Christenmenschen mehr töten wolle.” Der Langobarde, der sozusagen seinen Arm verloren hatte, indem er ihn gegen Gott erhob, sah sich nun durch seine Strafe gezwungen, zu schwören, daß er nie mehr einen Christenmenschen töten werde. Hierauf befahl der Mann Gottes: „Laß deine Hand herab!”, und sogleich ließ er sie herab. Er fügte dann noch hinzu: „Stecke das Schwert in die Scheide!”, und sogleich steckte er es ein. Da nun alle einen so wunderbaren Mann in ihm sahen, wollten sie ihm die Rinder und Lasttiere, die sie erbeutet hatten, als Geschenk anbieten, aber der Mann Gottes weigerte sich, ein solches Geschenk anzunehmen; er bat aber doch um eine gute Belohnung, indem er sprach: „Wenn ihr mir etwas schenken wollt, so gebt mir alle Gefangenen, die ihr habt, damit ich einen Grund habe, für euch beten zu müssen!” Das geschah, und alle Gefangenen wurden mit ihm freigegeben. So fügte es die göttliche Gnade, daß ein einziger, als er für einen zu sterben sich anbot, viele vom Tode errettete. S. 181
Petrus. Das ist ein wunderbares Ereignis, und obgleich ich es schon von andern gehört habe, so kommt es mir immer, ich muß es sagen, als neu vor, so oft ich’s höre.
Gregorius. Wundere dich hierbei nicht über Sanktulus, sondern denke vielleicht nach, was das für ein Geist war, der sein so einfältiges Gemüt beherrschte und zu solcher Tugendhöhe erhob. Denn wo war seine Seele, als er sich so mutig entschloß, für seinen Nächsten zu sterben, als er für das zeitliche Leben eines Bruders seines eigenen Lebens nicht achtete und seinen Nacken unter das Schwert beugte? Welch große, gewaltige Liebe herrschte in diesem Herzen, das nicht davor zurückschreckte, um der Rettung eines Mitmenschen willen in den Tod zu gehen? Wir wissen gewiß, daß dieser ehrwürdige Sanktulus nicht einmal in den Anfangsgründen der Wissenschaft gut Bescheid wußte; er kannte die Gesetzesvorschriften nicht, aber weil die Erfüllung des Gesetzes die Liebe ist,2 so hielt er das ganze Gesetz in der Liebe Gottes und des Nächsten, und was er nach außen hin an Wissen nicht besaß, das lebte in ihm durch die Liebe; und er, der vielleicht niemals gelesen hatte, was der Apostel Johannes vom Erlöser sagt: „Wie er für uns sein Leben dahingab, so sollen auch wir für die Brüder das Leben lassen”,3 kannte dieses so erhabene apostolische Gebot mehr im Üben als im Wissen. Stellen wir, wenn es dir recht ist, einen Vergleich an zwischen unserer ungelehrten Wissenschaft und seiner gelehrten Unwissenheit. Gerade in dem Punkt, in welchem unsere Wissenschaft darniederliegt, ragt die seinige hoch empor. Wir reden von den Tugenden und sind arm an ihr; wir stehen gleichsam unter Fruchtbäumen und riechen am Obst, essen aber nicht davon; er aber verstand es, die Tugendfrüchte zu pflücken, wenn er es auch nicht verstand, mit schönen Worten daran zu riechen. S. 182
Petrus. Woher meinst du wohl, daß es kommt, daß die Guten alle uns entrissen werden und daß es Männer, die zur Erbauung der Menschen leben, überhaupt nicht mehr gibt oder daß sie jedenfalls schon sehr selten werden?
Gregorius. Die Bosheit der Überlebenden verdient es, daß diejenigen, welche nützen konnten, schnell hinweggenommen werden; und da das Ende der Welt herannaht, werden die Auserwählten entrückt, damit sie nicht noch schlimmere Dinge schauen müssen. Darum nämlich sagt der Prophet: „Der Gerechte kommt um und niemand ist, der es zu Herzen nimmt! Die Männer der Barmherzigkeit werden dahingerafft und niemand ist, der es versteht!”4 Und wiederum heißt es deshalb: „Tut auf, daß ausziehen, die es zertreten; räumet aus dem Weg die Steine!”5 Deshalb sagt auch Salomo: „Es gibt eine Zeit, Steine auseinander zu werfen, und eine Zeit, Steine zu sammeln!”6 Wenn aber nun das Ende der Welt nahe bevorsteht, müssen die lebendigen Steine zum himmlischen Bau gesammelt werden, damit unser Jerusalem zur Größe seines Baues emporwachse. Doch glauben wir nicht, daß die Guten alle in dieser Weise fortgenommen werden, so daß allein die Bösen in der Welt zurückbleiben; denn nie würden die Sünder zur Buße und zur Beweinung der Sünden kommen, wenn nicht das Beispiel der Guten wäre, das ihre Herzen anzieht.
Petrus. Ich habe keinen Grund mehr zu klagen, daß die Guten hinweggenommen werden, sehe ich doch, daß auch die Bösen scharenweise umkommen.