XVII. Kapitel: Von dem Mönche vom Berge Argentarius, der einen Toten erweckte.
Gregorius. Noch in unserer Zeit war ein Mann namens Quadragesimus Subdiakon der Kirche zu Buxentum, der seine Schafherde in der Gegend der Aurelia zu weiden pflegte. Durch die Erzählung dieses sehr wahrheitsliebenden Mannes ist ein wunderbares Ereignis bekannt geworden, das sich im stillen zugetragen hat. In den Tagen nämlich, als jener, wie wir sagten, in der Gegend der Aurelia für seine Herde Sorge trug, befand sich dort ein Mann vom Berge Argentarius,1 der einen ehrwürdigen Lebenswandel führte. Er trug ein Mönchsgewand und entsprach dem, was er so äußerlich darstellte, auch in seinen Tugenden. Jedes Jahr begab er sich vom Berge Argentarius herab zur Kirche des heiligen Apostelfürsten Petrus und kehrte bei dem S. 142 Subdiakon Quadragesimus, wie dieser es selbst erzählte, als Gast ein. Eines Tages nun, als er in dessen Haus, das nicht weit von der Kirche entfernt lag, gekommen war, starb nebenan der Mann einer armen Frau. Man wusch ihn der Sitte gemäß, zog ihm Kleider an und hüllte ihn in ein Leintuch. Weil aber der Abend schon hereinbrach, konnte man ihn nicht mehr begraben. Die Witwe setzte sich neben den Toten, weinte während der ganzen Nacht und ließ ihrem Schmerz in unaufhörlichem Wehklagen freien Lauf. Als das so andauerte und das Weib gar nicht zu klagen aufhörte, bezwang den Mann Gottes, der von dem Subdiakon Quadragesimus beherbergt wurde, das Mitleid, und er sprach zu ihm: „Der Schmerz des Weibes geht mir zu Herzen; ich bitte dich, stehe auf und laß uns beten!” Sie gingen also beide in die nahe Kirche und fingen miteinander zu beten an. Nachdem sie längere Zeit gebetet hatten, bat der Mann Gottes den Subdiakon Quadragesimus, das Gebet zu beenden. Hierauf sammelte er Staub vom Sockel des Altares, ging mit Quadragesimus zum Leichnam des Verstorbenen und begab sich dort ins Gebet. Nachdem er länger gebetet hatte, wollte er nicht mehr wie vorher das Gebet durch den Subdiakon beenden lassen, sondern gab selbst den Segen und stand auf. Und während er in der rechten Hand den gesammelten Staub hielt, nahm er mit der linken das Tuch weg, womit das Gesicht des Toten bedeckt war. Als das Weib dies sah, fing sie an heftig zu widersprechen und sich zu verwundern, was er doch tun wolle. Er aber nahm das Tuch weg und rieb das Gesicht des Toten lange mit dem Staube ein. Nach längerem Reiben kam er wieder zum Leben, tat den Mund auf, öffnete die Augen, richtete sich auf und verwunderte sich, was man mit ihm tue, gerade als ob er aus einem sehr tiefen Schlaf erwacht wäre. Als das Weib, das durch ihr Wehklagen schon müde geworden war, dies sah, fing sie vor Freude noch mehr zu weinen und noch lauter zu S. 143 schreien an. Der Mann Gottes wehrte ihr aber mit sanftem Verweise ab und sprach: „Sei still! Sei still! Und wenn euch jemand fragt, wie dies geschehen ist, so sa get nur, daß der Herr Jesus Christus sein Werk getan hat!” Sprach’s, verließ die Herberge und den Subdiakon Quadragesimus und ließ sich nie mehr an jenem Orte sehen. Vor der zeitlichen Ehre fliehend, richtete er es nämlich so ein, daß er von denen, die ihn bei einem so großen Wunder gesehen hatten, niemals mehr in diesem Leben erblickt wurde.
Petrus. Ich weiß nicht, was andere denken, aber unter allen Wundern scheint mir das das größte Wunder zu sein, wenn Tote zum Leben zurückkehren und ihre Seelen aus dem Verborgenen wieder zum Leibe zurückgerufen werden.
Gregorius. Wenn wir den sichtbaren Vorgang betrachten, müssen wir also glauben; wenn wir aber das Unsichtbare in Betracht ziehen, so ist es zweifelsohne ein größeres Wunder, durch das Wort der Predigt und durch die Hilfe des Gebetes einen Sünder zu bekehren als einen leiblich Toten zu erwecken. Denn bei diesem wird das Fleisch auferweckt, das wieder sterben muß, bei jenem aber die Seele, die in Ewigkeit leben wird. Wenn ich zwei als Beispiel nehme, bei welchem von ihnen glaubst du, daß ein größeres Wunder geschehen ist? Den Lazarus nämlich, der, wie wir annehmen, schon gläubig war, hat der Herr dem Leibe nach erweckt, den Saulus aber hat er geistig auferweckt. Und nun wird über die Tugenden des Lazarus nach seiner leiblichen Auferstehung geschwiegen; unsere Schwachheit aber vermag es nicht zu fassen, was in der Heiligen Schrift über die Tugenden des Paulus nach seiner geistigen Auferstehung gesagt wird: daß sogar seine ingrimmigen Gedanken2 sich in weiche Milde verwandelten; daß er zu S. 144 sterben verlangt für seine Brüder, über deren Tod er früher sich freute;3 daß er, mit aller Wissenschaft der Schrift erfüllt, doch nichts zu wissen sich dünkt als Christus Jesus und diesen als den Gekreuzigten;4 daß er sich bereitwillig mit Ruten streichen läßt für Christus, den er mit Schwertern verfolgte;5 daß er hocherhaben ist ob der Ehre des Apostolates, daß er aber freiwillig gering wird inmitten der Jünger; daß er in die Geheimnisse des dritten Himmels eingeführt wird,6 und daß er dennoch aus Mitleid sein Geistesauge darauf richtet, das eheliche Bett zu regeln, indem er spricht: „Dem Weibe leiste der Mann die eheliche Pflicht, und ebenso auch das Weib dem Manne;”7 daß er in der Betrachtung den Chören der Engel sich beigesellt, und daß er es dennoch nicht verschmäht, an die Dinge fleischlicher Menschen zu denken und sie zu regeln; daß er sich freut in seinen Schwachheiten und Wohlgefallen hat an Schmähungen;8 daß Christus sein Leben ist und Sterben sein Gewinn;9 daß ihm alles schon außerhalb des Fleisches ist, was da lebet im Fleische.10 Siehe also, was derjenige für ein Leben hat, der von der Unterwelt des Geistes zum Leben der Frömmigkeit zurückgekehrt ist! Weniger also will es bedeuten, daß jemand dem Fleische nach auferweckt wird, wenn er nicht etwa durch die Wiederbelebung des Fleisches zum Leben der Seele zurückgeführt wird, so daß durch das äußere Wunder erreicht wird, daß er sich bekehrt und innerlich zum Leben erwacht.
Petrus. Ich habe das sehr unterschätzt, was ich nun als unvergleichlich höher stehend erkenne. Aber ich bitte, fahre im Angefangenen fort, damit die Zeit, die wir frei haben, nicht ohne Erbauung dahingehe. S. 145
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Gregor, der sonst in den geographischen Angaben verlässig ist, bietet hier ein Rätsel. Buxentum, wie die Mauriner lesen, heute Pisciota, liegt südlich von Paesiura; Aurelia ist das Gebiet an der Aurelischen Straße, welche von Rom nordwärts der etrurischen Küste entlang zieht; mons Argentarius, der heulige Monte Argentaro, ist ein Vorgebirge zwischen jener Straße und dem Meere. Ist wirklich anzunehmen, daß Quadragesimus seine Herde soweit nördlich trieb? Gregor scheint anzunehmen, daß Buxentum an der Aurelia liege, denn er sagt: Quadragesimus ... Buxentinae Ecclesiae Subdiaconus fuit, qui ... in eiusdem Aureliae partibus etc. Die meisten handschriftlichen Codices haben Baxentinae Ecclesiae; ein Baxentum ist aber unbekannt; sollte dies aus einem andern uns unbekannten Namen korrumpiert sein? Etwa aus Bulsiniae Ecclesiae, dem heutigen Bolsena? ↩
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Wir ziehen die Lesart: quod illae eius etiam crudelissimae cogitationes der anderen: quod illius praedicatione crudelissimae cogitationes vor. ↩
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Röm 9,3 ↩
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1 Kor 2,2 ↩
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2 Kor 11,25 ↩
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2 Kor 12,2 ↩
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1 Kor 7,3 ↩
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2 Kor 12,10 ↩
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Phil 1,21 ↩
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Gal 2,20 ↩