1.
O Herr, ich hatte mir vorgenommen, Schweigen zu bewahren, aber die Zeitverhältnisse gestatten dies nicht mehr. Ich flüchtete mich in den Hafen des Stillschweigens, vermochte aber auch da dem Sturme nicht zu entgehen. Mein Wille hatte meinen Geist überklebt und ihn durch die Türe des Schweigens gegen die Außenwelt abgeschlossen; da schlug der Finger des Hl. Geistes meine Zither wie ein Plektrum und redete durch sie. Als ich mich damit entschuldigen wollte, daß ich ein Kind sei, verwies er mich auf das Vorbild des Jeremias1. [10] Als ich sagte, ich sei ein Unwissender, machte er mich durch den Hinweis auf Moses verstummen2. Ich floh vor dem Gebote, zu predigen, aber sein Schweigen fing mich gleich dem Jonas3. Wie ein Träger wandte ich mich ab, aber sein Wort brannte in mir. S. 116 Siehe, in Deiner Kraft kämpfe ich; stehe mir also zur Rechten und stütze mich! Ich will über Dich reden, doch nicht als ein Grübler, sondern als ein Anbeter, o Herr! Rede also auch Du in mir und ordne in meinem Geiste die Erzählung von Dir! [20] Gib mir Deine Rüstung, damit ich in ihr den Leugner Deiner Menschheit besiege! Stelle mir zurecht die Schleuder Deiner Worte, damit wir den Stein des Glaubens darauflegen! Er möge ausgesandt werden durch die Hand meiner Schwachheit und den Goliath4, der Dich verleugnet, zu Boden strecken! Der Du alles in seiner Ausdehnung und in seinem Wachstum erschaffen hast und besitzest, [30] nicht möge meine Rede über Dich gering geschätzt werden; denn auch in mir wird Deine offenbare Wahrheit nicht verringert.
Deine Natur hat sich in unseren Staub gehüllt, Dein Glanz sich mit unserem Lehme bekleidet. Deine Gottheit ist in unserer Natur und unsere Natur in Deiner Gottheit, unvermischt und unvermengt, unverändert und unverwandelt. Nicht verliere ich Dich5, weil Du mich gefunden hast, noch verlierst Du mich, weil ich Dich gefunden habe. [40] Deine Natur blieb, wie sie ist, und auch meine Natur, wie Du sie geschaffen hast. Du bist nicht verwandelt worden, weil Du mich angenommen hast, und auch ich bin nicht verloren gegangen, weil ich Dein geworden bin. Du bist nicht verändert worden, weil Du in mir Wohnung genommen hast, und auch ich bin nicht in Dir aufgegangen, weil Du mich angezogen hast. Deine Natur hat sich nicht verwandelt und ist nicht zu einem Körper geworden, der nicht mein eigenes Ich wäre6, aber auch umgekehrt ist meine Na- S. 117 tur, die von Deiner Gottheit weit absteht, nicht gewürdigt worden, Gott zu werden7. [50] Vielmehr hast Du aus barmherziger Liebe den Menschen angezogen, auf daß er Dir gleich werde; Du hast Dich mit ihm bekleidet wie mit einem Gewande, welches nicht wieder ausgezogen wird und nicht veraltet. Nicht vermischt sich Deine Natur mit der unsrigen, noch vermengt sich unsere Natur mit der Deinigen, sondern in Dir, o Herr, bleibt unser Ebenbild bewahrt und in unserem Leibe wohnt Deine Wesenheit. Durch Dich fährt unser Erstling zum Himmel auf, denn die von Dir erduldete Strafe hat uns Frieden verschafft. [60] Wir bekennen keine Spaltung, Scheidung oder Trennung, weder zwei Personen noch zwei Söhne, sondern zwei Naturen, einen Gott, ungetrennt und unverwandelt, den Sohn des Staubes und den Sohn dessen, der den Menschen aus Staub erschaffen, ein einziges gottmenschliches Bild; den Sohn Adams, den Sohn Gottes, eine Ähnlichkeit und eine Majestät; [70] den Sohn Marias, den Sohn des Reiches, eine Krone, eine Herrschaft; den Sohn Davids, den Herrn Davids8, einen Anblick, ein vollkommenes Ebenbild; den Sohn Josephs9, den Sohn des Schöpfers, eine Macht, eine Gewalt.
Wir wollen nicht wie andere unseren Glauben auf abschüssigen Boden stellen. Denn diejenigen, welche eine Vermischung und Verwandlung bekennen, [80] müssen auf beides hoffnungslos verzichten, auf seine Gottheit und auf seine Menschheit10. Denn nachdem sie S. 118 ihre Vermengung erfunden und dadurch beide Naturen aufgehoben haben, was bleibt da noch übrig? Sie berauben sich selbst beider Naturen, da sie ihm beide rauben. Welche von beiden können sie wohl noch bekennen, nachdem sie beide zerstört haben? Zwar behaupten sie, seine Gottheit zu bekennen; aber wenn sie verwandelt worden ist, so ist sie nicht mehr dieselbe geblieben. [90] Auch seine Menschheit wollen sie bekennen; aber wenn sie so ist, wie jene behaupten, so ist sie keine menschliche Natur mehr.
Jer. 1, 6. ↩
Vergl. Ex. 4, 10. ↩
Jon. 1, 3. ↩
1 Kön. 17, 4 ff. ↩
Im folgenden ist unter „du“ die göttliche, unter „ich“ die menschliche Natur Christi zu verstehen. Der Sinn ist also: Die Annahme der Menschheit durch den Logos bewirkt weder eine Veränderung oder Umwandlung des göttlichen Wesens noch auch ein Aufgehen der menschlichen Natur in der Gottheit, sondern beide Naturen bleiben unvermischt bestehen. ↩
Eutyches lehrte, die Menschheit Christi sei von der unsrigen spezifisch verschieden. ↩
Hier und an einigen anderen Stellen wird auch die nestorianische Irrlehre gelegentlich zurückgewiesen. ↩
Vergl. Matth. 22, 41 ff ; Mark. 12, 35 ff; Luk. 20, 41 ff. ↩
Da unser Dichter an anderen Stellen die jungfräuliche Empfängnis des Herrn klar und deutlich lehrt, kann dies wohl nur im Sinne von Luk. 3, 23 verstanden werden, bildet aber dann kein vollgültiges Zeugnis mehr für die wahre Menschheit Christi. ↩
Indem die Monophysiten beide Naturen zu einer vermischen, heben sie sowohl die Gottheit als auch die Menschheit Christi auf. Denn die von ihnen angenommene gemischte, gottmenschliche Natur kann weder die unveränderliche göttliche noch die wahre menschliche Natur sein. ↩
