72.
1. Aber auch bei den alten Hellenen war die Verwendung von Kränzen noch nicht üblich; denn weder die Freier noch die üppigen Phaiaken verwenden sie. Und bei den Wettkämpfen wurden zuerst Preise verteilt; an zweiter Stelle kam die Sitte, daß die Sieger ihren Lohn einsammelten, an dritter das Bestreuen mit Blättern und Blumen, zuletzt erst die Bekränzung,1 als nach den Perserkriegen die Üppigkeit in Griechenland zugenommen hatte.
2. Es verzichten also auf Kränze die von vernünftigem Denken Erzogenen, nicht weil sie glaubten, sie würden durch die Kränze eben diese Denkkraft, die ihren Sitz im Gehirn hat, fesseln, auch nicht, weil der Kranz etwa das Sinnbild trunkener Ausgelassenheit ist, sondern weil er den Götzen geweiht ist.
3. So hat Sophokles die Narzisse „großer Götter alte Bekränzung“2 genannt, womit er die unterirdischen Gottheiten meinte; mit Rosen aber bekränzt Sappho die Musen: „Du hast ja die Rosen nicht, Die Pierien schenkt.“3 Und Hera freute sich, wie es heißt, an der Lilie4 und Artemis an der Myrte.5
4. Denn wenn auch die Blumen in erster Linie des Menschen wegen geschaffen worden sind, die unvernünftigen Menschen aber, nachdem sie die Blumen erhalten hatten, diese nicht voll Dank für den eigenen Gebrauch, sondern verkehrter Weise für den S. a82 undankbaren Dienst der Dämonen verwendeten, so muß man sich von ihnen „des Gewissens halber“6 fernhalten.
Vgl. Eratosthenes FGrHist 241 F. 14. ↩
Sophokles, Oid. auf Kol. 683 f.; vgl. Plut. Moral, p. 647 B. ↩
Sappho Fr. 68; vgl. Plut. Moral, p. 646 EF; A. Elter, Gnomol. hist. ram. 12. ↩
Die Lilie soll aus der verspritzten Milch Heras entstanden sein, als sie Herakles säugte; vgl. Geop. XI 19. ↩
Vgl. die Erzählung von einem der Artemis heiligen Myrtenbaum bei Paus. III 22, 12. ↩
1 Kor. 10, 25. 27. ↩
