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Wenn jemand in dem Streben, den Inhalt des heiligen Gesetzes kennenzulernen oder auch ihn zu widerlegen, des öfteren zur Lektüre des Buches der Genesis von Moses greift, so könnte er vielleicht — wir sehen es ja täglich, daß es Geister gibt, die an spitzfindigen Streitfragen ihre Freude haben1 — uns in Berufung auf ein Wort des Apostels eine verfängliche Frage vorlegen, indem er sagt: „Der erste Mensch stammt aus dem Lehm der Erde, der zweite Mensch stammt vom Himmel“ 2 Es sei, so könnte er sagen (nach dem Bericht der Genesis), doch kein Zweifel, daß nur ein Mensch aus dem Lehm der Erde gebildet wurde und daß ihm aus seiner Seite das Weib genommen wurde zum ehelichen Trost;3 und von diesen beiden stamme das ganze Menschengeschlecht. Von einem himmlischen Menschen aber sei dort keine Erwähnung, und man könne nicht S. 147 lehren, daß ein solcher geschaffen oder geboren worden sei. Dazu kommt noch eine andere Erwägung, die sich nachträglich aufdrängt: Es ist ein Widerspruch und eine Torheit, daß der zweite Mensch unsterblich, dagegen derjenige, der sterblich ist, der erste sein solle; denn die Unsterblichkeit schließe -den Begriff der Zeit aus, die Sterblichkeit aber begreife ihn in sich. Und gesetzt den Fall, daß der erste Mensch himmlisch ist, wozu brauchte er dann auch aus Erde zu sein? Ähnlich könne auch ein Wort des Evangeliums mit aufs gleiche gehender Beweisführung erschüttert werden.4 Da stehe geschrieben: „Niemand ist in den Himmel aufgestiegen außer derjenige, der vom Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn, der im Himmel war.„5 Wie könnte wohl ein Menschensohn im Himmel geboren werden, oder wessen Sohn müßte er sein, um vom Himmel herabzusteigen, da doch Wohnsitz und Natur des Menschen weit vom Himmel entfernt sind?
Wohlan, mein Leser,6 laß den Sinn erstehen, und du wirst die Wahrheit finden. Derjenige, der im Himmel war, ist vom Himmel herabgestiegen; und derjenige, der herabgestiegen ist von dem Himmel,7 ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist, der Menschensohn, der im Himmel war. Menschensohn ist er nur dem Namen nach, nicht nach dem Wesen. Der Herr hat nicht zweimal Fleisch angenommen; aber er mußte als Menschensohn bezeichnet werden, weil er schon vor der Zeit, da er es wurde, durch Vorbilder wie durch zahlreiche Weissagungen offenbarte,8 was er werden wollte. Die Bezeich- S. 148 nung „Gottessohn“ bezieht sich auf seinen unaussprechlichen Ursprung, die Bezeichnung "Menschensohn11 auf ein Geheimnis. Ich will sozusagen mit einem Schlüssel den verborgenen Sinn dieses Geheimnisses zu erschließen suchen. Dann wird jeder leicht das Walten der göttlichen Vorsehung und die hohe Bedeutung der Verbindung von Fleisch und Seele erkennen; erkennen auch, worin das höchste Gut des Menschen besteht.
Zahlreiche Gegner des Christentums suchten dasselbe durch Widersprüche aus der Bibel zu widerlegen. So namentlich Porphyrius, gestorben um 303 (vgl. A. Harnack, Kritik des Neuen Testamentes von einem griechischen Philosophen des 3. Jahrh., Leipzig 1911), und von ihm abhängig Hierokles, gestorben nach 308 (vgl. Lact. div. inst. V 2, 12s.: Alius ...conposuit libellos duos, ... in quibus ita falsitatem scripturae sacrae arguere conatus est, tamquam sibi esset contraria; gemeint ist Hierokles: Lact, de mort pers. 16). Bei den Berührungspunkten des Traktates mit dem Abschnitt des Lactantius scheint Zeno auf die letzteren anzuspielen. ↩
1 Kor. 15,47. ↩
Gen. 2,7. 21f. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: Simile dictum Evangelicum illud consentanea potest argumentatione pulsari (Giuliari: Simile dictum Evangelii cum illo consentanea potest argumentatione pulsari). ↩
Joh. 3, 13: .,. filius hominis, qui erat in caelo (Vulgata: qui est in caelo). Das Imperfektum bedeutet für Zeno eine Verschärfung des Problems. ↩
Bezieht sich auf den Leser der Hl. Schrift. ↩
Vgl. Eph. 4,10. ↩
Lesart der Ballerini: publicavit (Giuliari: praedicavit). ↩
