23. Cap. Fortsetzung.
Hiernach irrte sich Martha in ihrem Bekenntnisse des Sohnes Gottes so wenig als Petrus und Nathanaël, wiewohl sie, wenn sie geirrt hätte, sofort eines bessern belehrt worden wäre. Nämlich, um ihren Bruder von den Toten aufzuerwecken, blickt der Herr zum Himmel und zum Vater auf und sagt: „Vater” — natürlich ist er der Sohn — „ich danke Dir, dass Du mich immer erhörst; wegen dieser umherstehenden Scharen habe ich es gesagt, damit sie glauben, dass Du mich gesandt hast”.1 In der Betrübnis seiner Seele aber ruft er aus: „Und was soll ich sagen? Vater, errette mich aus dieser Stunde; doch um deswillen bin ich ja in diese Stunde gekommen. Aber, Vater, verherrliche Deinen Namen”,2 den Namen, in welchem er Sohn war. „Ich bin gekommen”, heisst es, „im Namen meines Vaters”3. Darum hatte das blosse Rufen, der Schrei des Sohnes zum Vater genügt. Siehe, zum Überfluss antwortet der Vater vom Himmel, um dem Sohne Zeugnis zu geben. „Dieses ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe; ihn sollt Ihr hören”4.
Wie viele Personen scheinen Dir nun ebenso auch in dem andern Ruf: „Ich habe verherrlicht und werde wiederum verherrlichen”5 gegeben zu sein, thörichter Praxeas, wenn nicht so viele als Stimmen? Den Sohn hast Du auf der Erde und den Vater im Himmel. Das ist keine Teilung, sondern die göttliche Disposition. Im übrigen aber wissen wir, dass Gott auch in den Abgründen gegenwärtig ist und sich überall befindet, aber seiner Kraft und Macht nach. Auch der Sohn als ungetrennt ist mit ihm überall. Jedoch der Ökonomie nach wollte Gott, dass der Sohn sich auf der Erde befinde, er selber aber im Himmel. Dahin blickte auch der Sohn auf, wenn er betete und etwas verlangte; dahin lehrte er auch uns beim Gebete uns richten: „Vater unser, der Du bist in den Himmeln”, trotzdem derselbe überall ist. Ihn bestimmte der Vater zu seinem Sitze; er erniedrigte den Sohn ein wenig unter die Engel, indem er ihn auf die Erde sendete, jedoch um ihn mit Herrlichkeit und Ehre zu krönen, wenn er ihn wieder in den Himmel aufnähme. Dies gewährte er ihm bereits mit den Worten: „Ich habe verherrlicht und werde verherrlichen.” Der Sohn auf der Erde stellt ein Verlangen, der Vater vom Himmel herab verspricht. Warum machst du Vater und Sohn zu Lügnern? Wenn der Vater vom Himmel herab zum Sohne sprach, während er selbst, als Sohn, auf der Erde war, oder wenn S. 545 der Sohn an den Vater eine Bitte richtete, da er doch selbst Sohn im Himmel war, so frage ich, was soll es heissen, dass der Sohn sich selbst um etwas bittet, indem er den Vater bittet, wenn der Sohn der Vater war, oder umgekehrt, dass der Vater sich etwas verhiess, indem er es dem Sohne verhiess, wenn dieser der Vater war? Gesetzt, wir behaupteten wirklich zwei getrennte6 Personen, wie Ihr uns immer vorwerfet, so wäre das immer noch erträglicher, als Gott zu einer Art Wechselbalg zu machen.
Deshalb hat der Herr damals zu den Anwesenden gesagt: „Nicht um meinetwillen kam jene Stimme, sondern um Euretwillen,”7 damit auch sie glaubten, dass sowohl der Vater als der Sohn, jeder in seinem Namen und in seiner Person, an seinem Orte sei. Ferner thut Jesus auch den Ausruf: „Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat,”8 weil man durch den Sohn an den Vater glaubt und der Vater dem Sohne die Gewährschaft des Glaubens gibt. „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.”9 Wie denn das? „Weil ich nicht aus mir geredet habe, sondern weil der, der mich gesandt hat, der Vater selber, mir den Auftrag gegeben hat, was ich reden und sagen soll.”10 Denn „der Herr ist es, der mir eine geübte Zunge gibt”,11 um zu erkennen, wann ich das Wort sagen soll, welches ich rede. „Wie es der Vater mir gesagt hat, so rede ich.”12
Wie das gemeint war, verstand der Evangelist und Lieblingsschüler Johannes jedenfalls gewiss besser als Praxeas; daher sagt er aus seinem Sinn heraus: „Vor der Osterfeier, da Jesus wusste, dass ihm alles vom Vater übergeben sei, dass er aus Gott sei und zu Gott gehe.”13 Praxeas aber will, dass der Vater aus sich selbst ausgegangen und von sich selbst weggegangen sei, so dass der Teufel dem Judas den Gedanken eingegeben hätte, nicht den Sohn, sondern den Vater selbst zu überliefern. Das kommt weder dem Teufel zugute noch dem Häretiker. Denn der Teufel bewirkte nicht einmal beim Sohne dessen Auslieferung zu seinem Nutzen. Es war nämlich Gottes Sohn, der sich im Menschensohne befand und ausgeliefert wurde, wie die Schrift beifügt: „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist verherrlicht in ihm.” Welcher Gott? Jedenfalls nicht der Vater, sondern das Wort des Vaters, das sich im Menschensohne befand, d. h. im Fleische, in welchem Jesus bereits vorher durch die Wunder verherrlicht war, aber auch durch das Wort. „Und Gott”, heisst es, „wird ihn verherrlichen in sich selbst,”14 d. h. der Vater den Sohn, den er, wenngleich er auf die Erde entsandt ist, in sich selbst hat, und den er bald durch die Auferstehung, nach Besiegung des Todes verherrlichen wird.