4.
Sulpicius, ich habe schon oft an das gedacht, S. 108was Martinus oftmals dir gegenüber äußerte, daß ihm nämlich während seiner bischöflichen Amtsverwaltung keineswegs die gleiche Wunderkraft zu Gebot gestanden sei, über die er früher seiner Erinnerung nach verfügen konnte. Wenn das wahr ist, ja weil es wahr ist, können wir daraus einen Schluß ziehen, welche Wundertaten er als Mönch und allein ohne Zeugen gewirkt hat, da er als Bischof so große Zeichen vor aller Augen getan hat, wie wir es mit angesehen haben. Viele seiner früheren Taten sind zwar der Welt bekannt geworden und konnten nicht verheimlicht werden, allein unmöglich wird man wohl aufzählen können, was er, allem eitlen Lob abhold, verborgen hielt und nicht zur Kenntnis der Leute kommen ließ. Er war ja über menschliche Natur erhaben, war sich seiner inneren Kraft und Fülle bewußt, trat den Weltruhm mit Füßen und wollte nur den Himmel zum Zeugen haben. Daß dies wahr ist, können wir dem entnehmen, was uns zur Kenntnis kam und nicht verborgen bleiben konnte. Er hat ja, wie dein Buch ausführlich erzählt, bevor er Bischof wurde, zwei Tote wieder zum Leben erweckt; als Bischof aber, was du zu meiner Verwunderung übergangen hast, nur einen. Dafür bin ich Zeuge, allerdings nur, wenn ihr mein Zeugnis für glaubwürdig haltet. Wie sich das aber zugetragen, will ich euch erzählen.
Aus irgendeiner Veranlassung waren wir auf dem Wege nach Chartres. Wir kamen an einem stark bevölkerten Dorfe vorbei. Da zog uns eine große Schar entgegen, die nur aus Heiden bestand; denn niemand wußte dort etwas vom Christentum. Aber auf die Kunde von der Ankunft eines so berühmten Mannes strömte eine große Volksmenge zusammen und die ganze, sich weit ausdehnende Ebene wimmelte von Menschen. Martinus überkam die Ahnung eines kommenden Wunders und er erbebte, da der Geist ihm dieses kundtat. Nun predigte er den Heiden das Wort Gottes mit überirdischer Salbung1 . Er seufzte dabei wiederholt, daß eine so große Schar nichts vom Herrn und Heiland wisse. Während uns diese unglaublich große Menge umgab, streckte S. 109ein Weib den Leichnam ihres Sohnes, der kurz vorher gestorben war, dem heiligen Mann entgegen mit den Worten: „Wir wissen, daß du ein Freund Gottes bist. Gib mir meinen Sohn wieder, er ist ja mein einziger“. Die Menge schloß sich an und unterstützte die Bitten der Mutter. Martinus erkannte, daß er um des Seelenheiles der harrenden Menge willen, wie er uns nachher gestand, Wunderkraft erlangen könne. Er nahm den Leichnam in seine Arme. Dann kniete er angesichts aller nieder. Nachdem er gebetet hatte, erhob er sich und gab das Kind lebend der Mutter wieder. Das Freudengeschrei der Menge schallte bis zum Himmel und sie bekannte, daß Christus Gott ist. Schließlich warfen sich alle scharenweise dem Heiligen zu Füßen mit dem glaubensvollen Verlangen, er solle aus ihnen Christen machen. Er legte ihnen allen ohne Zögern, so wie sie mitten auf freiem Felde waren, die Hände auf und machte sie zu Katechumenen. Dabei wandte er sich zu uns und äußerte, nicht ohne tieferen Sinn vollziehe sich die Katechumenenaufnahme auf freiem Felde; denn da werde ja gewöhnlich auch die Märtyrertaufe erteilt".
„Nec mortale sonans“, Zitat aus "Vergil, Aeneis VI, 50. ↩
