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Da wir nun einmal doch im Palaste sind, will ich hier anfügen, was darin, wenn auch zu anderer Zeit, geschehen ist. Denn ich glaube, das Beispiel nicht übergehen zu dürfen, das eine gläubige Herrscherin in ihrer bewundernden Verehrung gegen Martinus gab. Kaiser Maximus führte die Regierung. Er hätte in seinem ganzen Leben mit Recht nur Lob verdient1 , wäre es in sein freies Belieben gestellt gewesen, die Krone, die ihm gesetzwidrig bei einem Militäraufstand angeboten wurde, auszuschlagen und den Bürgerkrieg zu vermeiden. Allein eine solche Machtstellung konnte nicht ohne Gefahr abgelehnt, aber auch nicht ohne Waffengewalt behauptet werden. Öfter ließ er Martinus kommen, nahm ihn in seinem Palaste auf und erwies ihm voll Hochschätzung alle Ehre. Sie sprachen dann miteinander nur über Gegenwart und Zukunft, über den Ehrenvorzug der Christen und die ewige Seligkeit der Heiligen. Unterdessen hing die Kaiserin Tag und Nacht an den Lippen des Martinus. Sie stand jenem Vorbild im Evangelium nicht nach, benetzte die Füße des Heiligen mit Tränen und trocknete sie mit ihren Haaren ab. Martinus, den doch sonst nie ein Weib berührt halte, konnte sich ihrer unermüdlichen Aufmerksamkeit oder besser gesagt ihrer Dienstbeflissenheit nicht entziehen. Sie vergaß den Reichtum ihres Thrones, die Würde der Herrschaft, Diadem und Purpur. Auf dem S. 112Boden liegend ließ sie sich von den Füßen des Martinus nicht wegbringen. Schließlich stellte sie an ihren Gemahl die Bitte, sie sollten beide Martinus dazu bestimmen, daß sie allein, ohne die Dienerschaft, ihm ein Mahl bereiten dürfe. Der heilige Mann konnte sich nicht länger hartnäckig dagegen sträuben. Die Kaiserin richtete mit eigener Hand voll heiliger Gesinnung alles her: sie stellte einen kleinen Sessel zurecht, rückte einen Tisch herbei, reichte Wasser für die Hände und trug die Speisen auf, die sie selbst gekocht hatte. Während er aß, stand sie, wie es sich für Diener ziemt, in einiger Entfernung, unbeweglich wie an den Boden gewachsen, da und legte so in allem die Bescheidenheit einer Dienerin und die Demut einer Magd an den Tag. Sie selbst mischte den Wein, wenn er trinken wollte, und reichte ihn dar. Nach Beendigung der kleinen Mahlzeit sammelte sie die übrig gebliebenen Brotkrumen. Sie zog diese Überreste in ihrer gläubigen Gesinnung der kaiserlichen Tafel vor. Glückseliges Weib! Wenn wir uns an die bloße Erzählung halten wollen, ist sie billigerweise in ihrer frommen Hingebung jener zu vergleichen, die von den Enden der Erde kam, um Salomon zu hören2 . Indes, man muß den Glauben der Herrscherinnen in Betracht ziehen, dann kann man, wenn man die Erhabenheit des Geheimnisses nicht weiter berücksichtigt, sagen, jene verlangte nur, den Weisen zu hören, diese gab sich nicht zufrieden, ihn bloß zu hören, sondern darf den Weisen auch bedienen".
