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"Gallus, du hast gesiegt", sagte da Postumianus, "nicht über mich, da ich eher Anwalt des Martinus bin und all das über ihn schon erfahren habe und von jeher davon überzeugt war, du hast gesiegt über alle Einsiedler und Anachoreten. Denn keiner von ihnen hat wie dieser euer, oder besser gesagt unser Martinus dem Tode geboten. Unser Sulpicius stellt ihn mit Recht den Aposteln und Propheten an die Seite1 ; erreichte er sie doch in allweg. Zeugen hierfür sind seine Glaubenskraft und Wunderwerke. Doch fahre fort, ich bitte dich. Wir können zwar nichts Ruhmvolleres mehr vernehmen. Fahre aber doch fort, Gallus, zu erzählen, was jetzt noch von Martinus erübrigt. Die Seele verlangt ]a, auch die unbedeutendsten und gewöhnlichen Ereignisse aus seinem Leben kennen zu lernen. Was bei ihm unbedeutend scheint, ist sicher gewichtiger als die Grosstaten anderer".
S. 110"Gut", sagte Gallus. "Von dem, was ich jetzt erzählen will, war ich nicht selbst Augenzeuge. Es hat sich zugetragen, bevor ich mich diesem heiligen Manne anschloß. Allein es ist ein vielbesprochenes Vorkommnis, das durch die Aussage zuverlässiger Brüder, die dabei waren, weit und breit bekannt wurde. Zur Zeit etwa, als ihm die Bischofswürde zuteil wurde, mußte er aus dringender Veranlassung zu Hof gehen. Damals führte Valentinian der Ältere2 die Zügel der Regierung. Als er in Erfahrung gebracht hatte, daß Martinus eine Bitte stellen wolle, die er nicht gewähren mochte, gab er Befehl, ihn nicht über die Schwelle des Palastes treten zu lassen. Seine arianische Gemahlin hatte sich nämlich seinen rücksichtslosen Stolz zunutzen gemacht und ihn dem heiligen Manne ganz entfremdet, um es zu erreichen, daß er diesem nicht die gebührende Ehre erwiese. Martinus versuchte es ein erstes und zweites Mal, eine Audienz bei dem hochmütigen Kaiser zu erlangen. Dann nahm er zu den bekannten Hilfsmitteln seine Zuflucht: er legte ein Bußgewand an, bestreute sich mit Asche, nahm weder Speise noch Trank und betete unablässig Tag und Nacht. Am siebten Tage erschien ihm ein Engel und hieß ihn furchtlos zum Palaste gehen, die verschlossenen Tore des Kaiserpalastes würden sich von selbst öffnen, der hochfahrende Geist des Kaisers würde sich zur Milde stimmen lassen. Durch solches Zureden des Engels, der ihm erschienen war, ermutigt und auf dessen Hilfe vertrauend, ging er zum Palaste. Die Tore taten sich ihm weit auf, niemand vertrat ihm den Weg. Schließlich gelangte er ungehindert bis zum Kaiser. Als dieser ihn von ferne kommen sah, ward er wütend, daß man ihn vorgelassen habe. Er hielt es unter seiner Würde, sich vor Martinus, der vor ihm stand, zu erheben, bis Flammen unter dem Thronsessel aufloderten und Feuer am sitzenden König hinaufzüngelte. Jetzt schnellte der stolze Mann rasch von seinem Sitze S. 111empor; er erhob sich wider seinen Willen vor Martinus und schloß den vielmals in seine Arme, dem er doch vorher Mißachtung bezeugen wollte. Umgewandelt gestand er, er habe eine göttliche Kraft an sich verspürt. Ohne auf des Martinus Bitten zu warten, gewährte er schon zum voraus alles. Häufig zog er ihn in vertrauliches Gespräch und lud ihn zu Tisch. Als Martinus schließlich abreiste, bot er ihm viele Geschenke an. Der heilige Mann wies sie aber alle zurück, wie er ja immer treu seine Armut zu wahren suchte.
