5.
Du hältst mir wohl das Wort des hl. Johannes: „Seine Gebote sind nicht schwer“1 und den Ausspruch des Evangeliums: „Mein Joch ist süß, und meine Bürde S. 412 ist leicht“2 entgegen. Doch da bist du ohne jegliche Schwierigkeit zu widerlegen. Es ist nämlich sicher, daß gemeint ist, die Gebote des Evangeliums seien leicht im Vergleiche zum jüdischen Aberglauben, welcher verschiedene Arten von Zeremonien ausfindig machte, die nach der buchstäblichen Auffassung und nach dem Worte des Apostels Petrus niemand erfüllen konnte. Deshalb schreibt auch die Apostelgeschichte: „Warum versuchet ihr jetzt ein Joch auf den Nacken der Jünger zu legen, welches weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? Vielmehr glauben wir, durch die Gnade des Herrn Jesu gerettet zu werden gleichwie auch jene“3. Der Apostel Jakobus schreibt: „Wenn du das Gesetz richtest, dann bist du nicht ein Vollbringer des Gesetzes, sondern sein Richter“4. Jener macht sich zum Richter des Gesetzes, der behauptet, etwas sei nicht in rechtmäßiger Weise angeordnet, die Unwissenheit schließe keine Sünde in sich. Opfer für den Irrtum würden zwecklos dargebracht, weil das Bewußtsein der Sünde nicht vorhanden sei. Aber bei einem Gesetze kommt es nicht auf die Begründung, sondern auf die Gültigkeit an. Derselbe Apostel schreibt im gleichen Briefe: „Der Zorn des Mannes tut nicht, was vor Gott gerecht ist“5. Wer aber unter uns kann frei sein von dem Zorne, von welchem geschrieben steht: „Der Zorn richtet auch die Weisen zugrunde“?6 Es ist bezeichnend, daß der Apostel nicht vom Zorne Gottes, sondern vom Zorne des Mannes gesprochen hat. Gottes Zorn ist nämlich gerecht; der Zorn des Menschen aber bricht aus einer im Gleichgewicht gestörten Seele hervor. Darum heißt es im Psalme: „Wenn ihr zürnet, dann sündigt nicht“7. Welchen Sinn dieser Vers hat, zeigt der Apostel, wo er schreibt: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne“8, so daß es als durchaus sündhaft erscheint, auch nur leichthin zu zürnen, daß es aber zur Gerechtigkeit angerechnet wird, den Zorn durch rasche S. 413 Reue zu mildern. Weiter werden wir sogar für ein müßiges Wort Rechenschaft ablegen müssen am Tage des Gerichtes9. Im gleichen Evangelium liest man ferner: „Wer seinem Bruder ohne Grund zürnt, wird des Gerichtes schuldig sein“10. Ja, in sehr vielen alten Handschriften fehlen sogar die Worte „ohne Grund“, natürlich weil wir selbst dann, wenn ein Grund vorliegt, nicht zürnen sollen. Welcher Mensch möchte wohl behaupten, daß der ungerechte Zorn für immer ohne Sünde sei? Und an anderer Stelle heißt es: „Rühme dich nicht des morgigen Tages; denn du weißt nicht, was der kommende Tag mit sich bringt“11. Darum steht geschrieben: „Preise niemanden vor dem Tode glücklich!“12 Solange wir eben im Leben stehen, müssen wir kämpfen, solange wir im Kampfe stehen, gibt es keinen sicheren Sieg. Auch dem Apostel ist er trotz seines tapferen Kämpfens für zukünftige Zeiten vorbehalten worden. Der Herr und Erlöser sagt von sich seiner menschlichen Natur nach: „Ich bin der törichtste unter allen Menschen, und eines Menschen Klugheit ist nicht in mir“13. Im 68. Psalm [Hebr. 69. Ps.] heißt es: „O Gott, Du kennst meine Torheit!“14 Aber was bei Gott töricht ist, ist weiser als die Menschen15. Auch im Prediger finden wir geschrieben: „Wo viele Weisheit, da ist viel Wissen. Und wer das Wissen mehrt, mehrt den Schmerz“16, weil er einsieht, daß es ihm an Vollkommenheit mangelt und aus dem, was er weiß, ersieht, wieviel Wissen ihm noch abgeht. Und er fährt fort: „Haß hegte ich gegen das Leben, weil das Werk, das ich auf Erden ausführe, schlecht ist. Denn alles ist Eitelkeit und Vermessenheit des Geistes17. Niemand weiß, was kommen wird; denn, wer soll es ihm, so wie er ist, anzeigen18. Es gibt Gerechte, denen Böses widerfährt, als hätten sie Gottloses getan; und es gibt Ungerechte, denen es ergeht, als hätten sie gerecht gehandelt“19. Dies führe ich zum Beweise dafür S. 414 an, daß ein sicheres Urteil nur bei Gott steht, daß diejenigen, die wir für gerecht halten, oft als Sünder befunden werden, und umgekehrt, daß solche im göttlichen Urteile als gerecht gelten, die wir für Sünder ansehen. Je mehr der Mensch sich Mühe gibt, nachzuforschen, destoweniger wird er finden. Und spräche auch der Weise, er wisse es, so wird er es doch nicht finden können20. Allen begegnet dasselbe, und die Herzen der Menschenkinder sind voll der Schlechtigkeit21 und Unbeständigkeit, welche griechisch περιφέρεια [periphereia] genannt wird. „Sterbende“, oder wie es im Hebräischen heißt, „tote Fliegen zerstören oder verderben die Annehmlichkeit des Öles“22. Welcher Sterbliche unterliegt nicht dem einen oder anderen Irrtum? Wen bespritzt nicht das Gift häretischer und falscher Glaubenslehren? „Die Zeit ist da“, so heißt es, „daß das Gericht am Hause Gottes anfange. Wenn es aber zuerst bei uns beginnt, wie wird dann das Ende derjenigen sein, welche dem Evangelium nicht glauben? Und wenn der Gerechte kaum gerettet werden wird, wo wird denn der Sünder und der Gottlose zum Vorschein kommen?“23 Der ist sicher gerecht, der am Tage des Gerichtes noch eben gerettet wird. Mit Leichtigkeit würde er aber gerettet werden, wenn keine Spur einer Makel sich an ihm vorfände. Darin liegt also seine Gerechtigkeit, daß er durch viele Tugenden glänzt; daß er aber noch eben gerettet wird, beruht darauf, daß er in einigen Dingen auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen ist.
1 Joh. 5, 3. ↩
Matth. 11, 30. ↩
Apg. 15, 10 f. ↩
Jak. 4, 11. ↩
Jak. 1, 20. ↩
Spr. 15, 1 nach LXX. ↩
Ps. 4, 5 [Hebr. Ps. 4, 5]. ↩
Ephes. 4, 26. ↩
Matth. 12, 36. ↩
Matth. 5, 22. ↩
Spr. 27, 1. ↩
Eccli. 11, 30 [= Ecclisiasticus/Sirach 11,29]. ↩
Spr. 30, 2. ↩
Ps. 68, 6 [Hebr. Ps. 69, 6]. ↩
1 Kor. 1, 25. ↩
Eccle. 1, 18 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
Eccle. 2, 11 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
Eccle. 10, 14 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
Eccle. 8, 14 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
Eccle. 8, 17 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
Eccle. 9, 3 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
Eccle. 10, 1 [= Ecclesiastes/Prediger]. ↩
1 Petr. 4, 17 f. ↩
