17.
„Ich kann nichts“ — so steht geschrieben — „aus mir selbst tun, sondern nach dem, was ich höre, richte ich“1. Die Arianer mißdeuten diese Stelle in ihrem Sinne2, aber die Kirche erwidert, daß diese Worte gesprochen seien im Sinne desjenigen, der die menschliche Natur angenommen hat. Du sprichst ganz entgegengesetzt: „Ich kann, wenn ich will, ohne Sünde sein“. Er kann nichts aus sich tun, um zu zeigen, daß er in Wahrheit die menschliche Natur besitzt. Du kannst alle Sünden meiden, um deine göttliche Kraft zu erweisen, obwohl du bis jetzt noch mit deinem Körper umgeben bist. — Zu seinen Brüdern und Verwandten sagt er, er gehe nicht zum Laubhüttenfest. Nachher steht aber geschrieben: „Nachdem seine Brüder hinaufgezogen waren, ging auch er hinauf zum Feste, nicht S. 434 offenbar, sondern wie im geheimen“3. Er behauptet, er werde nicht gehen und tut doch, was er vorher verneint hat. Porphyrius4 poltert und beschuldigt Jesus des unbeständigen Wechsels, da er nicht weiß, daß alles, was Anstoß erregen kann, auf die menschliche Natur zurückzuführen ist5. — „Moses“, so heißt es, „hat euch das Gesetz gegeben, doch niemand aus euch erfüllt das Gesetz“6; natürlich ist ein Gesetz gemeint, dessen Beobachtung möglich ist. Trotzdem hat es niemand erfüllt, obgleich es möglich war; denn es liegt nicht an der Schuld des Befehlenden, sondern an der Gebrechlichkeit des Hörenden, damit die gesamte Welt Gott unterworfen sei7. — Im Evangelium nach Johannes findet sich in vielen griechischen und lateinischen Handschriften die Perikope der Ehebrecherin, die beim Herrn verklagt wurde8. Als Ankläger traten in S. 435 stürmischer Weise die Schriftgelehrten und Pharisäer auf, welche verlangten, daß sie dem Gesetze gemäß gesteinigt werden sollte. „Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde“9. Natürlich schrieb er die Fehler derjenigen, die als Ankläger auftraten, und die Fehler aller Sterblichen gemäß dem Worte des Propheten: „Diejenigen aber, welche dich verlassen, werden auf die Erde geschrieben werden“10. Endlich erhob er das Haupt und sprach zu ihnen: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie!“11 Für die Worte ohne Sünde steht im Griechischen ἀναμάρτητος [anamartētos]. Wenn nun jemand findet, daß ein Unterschied besteht zwischen den Ausdrücken „ohne Sünde“ und „ἀναμάρτητος“ [anamartētos], der möge den griechischen Begriff durch ein neues Wort verdolmetschen. Ist aber die bei den Lateinern übliche Übersetzung eine wahrheitsgetreue, dann ist selbstverständlich ἀναμάρτητος [anamartētos] nichts anderes als „ohne Sünde“. Weil nun sämtliche Ankläger sich davon machten — es hatte nämlich der so überaus milde Richter ihrem Zartgefühl Rechnung getragen und ihnen Zeit gegeben, sich zu entfernen —, schrieb er von neuem in den Staub. Während er zu Boden sah, zogen sie sich allmählich zurück und fingen an, seinen Blicken auszuweichen. Jesus blieb allein mit dem Weibe übrig und sprach zu ihr: „Wo sind jene, welche dich angeklagt haben? Hat dich niemand verurteilt?“ Sie erwiderte: „Niemand, Herr“. Jesus gab ihr zur Antwort: „Dann will auch ich dich nicht verurteilen. Gehe, und sündige fürderhin nicht mehr!“12 Der Herr befahl ihr, nicht weiter zu sündigen, wie er auch in ähnlicher Weise andere Vorschriften im Gesetze gab. Ob sie darnach gehandelt hat oder nicht, darüber läßt sich die Schrift nicht aus. ― „Alle“, heißt es ferner, „die vor mir gekommen sind, waren Diebe und Räuber“13. Wenn alle S. 436 in Frage kommen, dann ist keiner ausgenommen. Jesus sagt: „Die vor mir gekommen sind“, nicht diejenigen, welche gesandt worden sind. Er meint jene, von welchen der Prophet schreibt: „Sie kamen aus sich selbst, ich aber sandte sie nicht“14. Durch dieses Wort wird die Gewalt, die Christus, der in sein Eigentum kam, aber bei den Seinigen keine Aufnahme fand15, allein zukam, besonders hervorgehoben. — „Da ich in der Welt unter ihnen war“, so spricht er, „bewahrte ich sie in Deinem Namen. Ich habe sie behütet, die Du mir anvertraut hast. Keiner aus ihnen ist verloren gegangen, einzig abgesehen vom Sohne des Verderbens“16. Er sprach nicht: „Ich habe ihnen die Fähigkeit der freien Willensentscheidung gegeben, so daß sie selbst durch eigene Arbeit ihr Seelenheil wirkten“, sondern: „Ich habe sie behütet, ich habe sie bewacht“. Zuletzt fügt er hinzu: „Ich bitte nicht, daß Du sie aus der Welt fortnimmst, sondern daß Du sie vor dem Bösen bewahrest“17. — In der Apostelgeschichte steht geschrieben, daß zwischen Paulus und Barnabas wegen des Johannes, mit dem Beinamen Markus, ein Streit entstanden sei, so daß sie sich trennten und Barnabas den Markus, Paulus aber den Sylas als Gehilfen bei der Verkündigung des Evangeliums mit sich nahm18. Paulus war strenger, der andere milder, ein jeder aber war von der Richtigkeit seiner Meinung völlig überzeugt19. Trotzdem hat ein Zwiespalt etwas von menschlicher Gebrechlichkeit an sich. — In demselben Buche lesen wir: „Sie gingen hinüber nach Phrygien und in das Gebiet der Galater, wurden aber vom Heiligen Geiste gehindert, das Wort Gottes in Asien zu verkünden“20. Infolge dieses Strafurteils finden sich in genannter Provinz bis heute, wie ich glaube, noch sehr viele Häretiker, welche gegen den Heiligen Geist angehen21. „Als sie nach Mysien gekommen waren, S. 437 wollten sie nach Bithynien reisen, aber der Geist Jesu ließ sie nicht“22. Erwäge, daß der Geist Jesu der Heilige Geist ist, der an anderer Stelle infolge der Wesenseinheit Geist des Vaters genannt wird! Sie wollen in Asien reden und werden vom Heiligen Geiste gehindert. Sie versuchen, sich nach Bithynien zu begeben, aber der Geist Jesu erlaubt es nicht. Dies wäre jedoch nicht recht am Platze gewesen, wenn er ihnen ein für allemal die Fähigkeit verliehen hätte, sich frei zu entscheiden, ob sie handeln oder nicht handeln wollten.
Joh. 5, 30. ↩
Die Arianer legten dieser Stelle ihre subordinatianische Auffassung des Verhältnisses von Vater und Sohn unter. ↩
Joh. 7, 8. 10. ↩
Ein Neuplatoniker (von 232 bis etwa 304) aus Batanea in Syrien. In seinen nicht mehr erhaltenen fünfzehn Büchern κατά Χριστιανῶν [kata Christianōn], welche Theodosius im Jahre 435 verbrennen ließ, will er Widersprüche und Legendenbildungen in den Evangelien aufdecken. ↩
Hieronymus will sagen, daß die zweite göttliche Person ihrer menschlichen Natur nach die menschlichen Defekte auf sich genommen hat. Was sich mit der Gottheit Christi nicht vereinbaren läßt, das muß auf die menschliche Natur beschränkt werden. Allerdings kann die Widerlegung des Porphyrius durch Hieronymus nicht befriedigen, weil der Umfang der Erkenntnis Christi infolge der hypostatischen Union in beiden Naturen der gleiche war. Auch verfolgte der menschliche Wille dasselbe Ziel wie der göttliche. Es geht jedoch zu weit, wenn Trzciński (349) auf Grund dieser Stelle den alten, bereits von Julian von Eclanum gemachten Vorwurf erneuert, Hieronymus habe für die menschliche Natur des Heilandes auch die Sündhaftigkeit angenommen. Der Begriff scandalum berührt hier das moralische Gebiet nicht; denn andere Stellen der vorliegenden Schrift (z. B. II, 19; III, 12) lehnen die Sündhaftigkeit für die Person des Erlösers ausdrücklich ab. ↩
Joh. 7, 19. ↩
Röm. 3, 19. ↩
Joh. 8, 3―11. Auch heute noch steht die Frage nach der Echtheit dieser Perikope im Vordergrund der Erörterung, da sie in den ältesten erhaltenen Handschriften fehlt. Interessant ist die aus dem Jahre 415 stammende Mitteilung des hl. Hieronymus, daß nicht bloß viele griechische, sondern auch viele lateinische Kodizes diesen Abschnitt enthalten. ↩
Joh. 8, 6. ↩
Jer. 17, 13. ↩
Joh. 8, 7. ↩
Joh. 8, 8―11. ↩
Joh. 10, 8. ↩
Jer. 23, 21. ↩
Joh. 1, 11. ↩
Joh. 17, 12. ↩
Joh. 17, 15. ↩
Apg. 15, 36―40. ↩
Röm. 14, 5. ↩
Apg. 16, 6. ↩
Nach Eusebius (H. E. V, 16 f.) stammte Montanus aus Ardaban, einer Ortschaft in Mysien an der Grenze Phrygiens. Wegen ihrer zahlreichen Anhängerschaft in letztgenannter Provinz nannte man die Montanisten auch Kataphrygier. Bekanntlich gab sich Montanus für den Paraklet aus. ↩
Apg. 16, 7. ↩
