23.
Ich halte es für eine Sünde, wenn jemand sich mit den Worten Gottes nicht zufrieden gibt. Von einem solchen spricht Jeremias, wenn auch die meisten diese Worte im übertragenen Sinne auf den Herrn und Erlöser deuten: „Der Geist unseres Gesichtes, der Gesalbte, der Herr ward gefangen für unsere Sünden. Zu ihm sprachen wir: In Deinem Schatten werden wir leben unter den Völkern“1. Moses, der mit dem Herrn von Angesicht zu Angesicht geredet hatte2 und dessen Seele gerettet war3, sündigte bei den Wassern des Widerspruches und wurde samt seinem Bruder Aaron für unwürdig befunden, in das Land der Verheißung einzugehen. Auf diese beide geht das Psalmenwort: „Hart am Felsen werden ihre Richter verschlungen; meine Worte aber wird man hören, weil sie gefallen“4. Der Sinn ist folgender: Die Richter des Judenvolkes, Moses und Aaron, sind neben den Felsen, aus denen die Wasserfluten hervorsprudelten, von der Sünde des Volkes verschlungen worden, obwohl sie persönlich gerecht waren und den Worten Gottes gehorchten, die an und für sich überaus angenehm sind. — Weiter heißt es von den Leichnamen der in der Wüste Verstorbenen: „Wie die Erdschollen ausgegraben und über den Boden hin zertreut sind, so sind hingesät unsere Gebeine neben S. 448 dem Abgrund“5. Bei Osee spricht der Herr: „Ich verlobe mich mit dir in Recht und Gerechtigkeit“. Und sofort fügt er hinzu: „Und in Gnade, Erbarmung und Treue“6, damit er aus der Belohnung erkenne, daß Gott selbst der Spender sei. — In demselben Buche findet sich geschrieben: „Ich bin Gott und kein Mensch, der Heilige in deiner Mitte, und nicht werde ich die Stadt betreten“7, natürlich weil sie eine Brutstätte der Laster ist. Diese Stadt, welche Kain nach dem Namen seines Sohnes Enoch erbaut hat8, betritt einzig er nicht, ὁ μόνος ἀναμάρτητος [ho monos anamartētos], mit welchen Worten ihn tagtäglich jeder Priestermund verherrlicht9. In unserer Sprache bedeuten sie: „Der allein ohne Sünde ist“. Dieser Ruhmestitel wird aber von deinem Standpunkt aus Gott fälschlich beigelegt, wenn er ihn mit anderen Wesen teilt. Wir verwandeln eben nach dem Ausspruch des Propheten Amos die Gerechtigkeit in Wermut und die Frucht des Rechtes in Bitterkeit10. — Die Schiffer und Passagiere sprechen im Buche Jonas: „Laß uns, o Herr, doch nicht untergehen, um dieses Mannes willen, und bringe nicht unschuldiges Blut über uns! Denn wie es Dir gefiel, o Herr, so ist es geschehen“11. Sie kennen nicht die Ursache und wissen nicht, was der flüchtige Prophet verdient hat; trotzdem rechtfertigen sie Gott, nennen aber auch den „unschuldiges Blut“, dessen Werke ihnen unbekannt sind. Und zuletzt bemerken sie: „Wie es Dir gut schien, o Herr, so ist es geschehen“. Sie untersuchen nicht, ob das göttliche Urteil gerecht sei, sondern sie treten ein für die Wahrhaftigkeit des gerechten S. 449 Richters. — Michäas bezeugt mit klagender Stimme: „Umgekommen sind die Frommen im Lande, und einen Rechtschaffenen gibt es nicht mehr unter den Menschen. Alle lauern auf Blut, ein jeglicher stellt seinem Bruder nach, um ihn zu töten. Das Böse, das ihre Hand vollbringt, nennen sie gut“12. Und ein anderes Mal: „Der beste unter ihnen ist wie ein Dornstrauch, und wer rechtschaffen ist unter ihnen, gleicht einer Dornenhecke“13. So ist die menschliche Gerechtigkeit geartet, daß man nach den Worten desselben Propheten weder dem Freunde, noch dem Gatten, noch den Kindern trauen kann; denn des Menschen Feinde sind seine Hausgenossen14. Die Richtigkeit dieses Wortes hat der Herr selbst bestätigt15. Deshalb gibt der gleiche Prophet den Rat: „Ich will dir sagen, o Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir wünscht, daß du Recht tust, Barmherzigkeit liebst und Sorge trägst, mit deinem Gotte zu wandeln“16. Hat er etwa gesagt: „Du sollst Gott gleich sein“, oder hat er nicht als die wichtigste Aufgabe bezeichnet, „Sorge zu tragen, daß du mit deinem Gotte wandelst“? Du sollst dich niemals sicher fühlen, du sollst dein Herz bewahren vor jeglichem Stolze, du sollst bedenken, daß du dich inmitten von Fallstricken bewegst und unter Mauerzinnen einhergehst, du sollst dich täglich an die Worte erinnern: „Neben den Weg haben sie mir ein Hindernis gelegt“17. Den Hoffärtigen widersetzt sich Gott, den Demütigen aber gibt er Gnade“18.
Klagel. 4, 20. ↩
[= Exod. 33, 11]. ↩
Versehentliche Anführung von Gen. 32, 31. ↩
Ps. 140, 6 [Hebr. Ps. 141, 6]. ↩
Ps. 140, 7 [Hebr. Ps. 141, 7]. ↩
Os. 2, 19 f. ↩
Os. 11, 9. ↩
Gen. 4, 17. ↩
Ὁ μόνος ἀναμάρτητος [ho monos anamartētos] ist eine alte, oft gebrauchte liturgische Formel, welche offenbar an 1 Petr. 2, 22 anlehnt. Sie kommt z. B. in der in Palästina gebräuchlichen Jakobusliturgie nach der Konsekration bei der Fürbitte für die Verstorbenen vor. Vgl. Griechische Liturgien, übersetzt von J. Storf. Kempten 1912, 112; C. A. Swainson, The Greek liturgies. Cambridge 1884, 300. ↩
Am. 6, 13. ↩
Jon. 1, 14. ↩
Mich. 7, 2 f. ↩
Mich. 7, 4. ↩
Mich. 7, 6. ↩
Matth. 10, 36. ↩
Mich. 6, 8. ↩
Ps. 139, 6 [Hebr. Ps. 140, 6]. ↩
Jak. 4, 6. ↩
