Zweiter Artikel. Ohne Gnade kann der Mensch nichts Gutes wollen oder thun.
a) Das Gegenteil wird dargethan. Denn: I. Der Mensch ist Herr seines Handelns und zumal seines Wollens. Also steht es in seiner Gewalt das Gute zu wollen. II. Jegliches Ding richtet sich mit mehr Kraft auf das seiner Natur Entsprechende wie auf das, was außerhalb seiner Natur steht. Die Sünde aber ist gegen die Natur, nach Damascenus (2. de orth. fide 30.); und das Tugendwerk ist der menschlichen Natur gemäß. Da also der Mensch von sich aus sündigen kann, so kann er auch von sich aus um so mehr Gutes thun und wollen. III. „Das der Vernunft entsprechende Gut ist das Wahre,“ nach 6 Ethic c. 2. Die Vernunft aber kann von sich aus Wahres erkennen, wie jedes Ding die ihm natürliche Thätigkeit von sich aus entfalten kann. Also kann um so mehr der Mensch von sich aus wollen und thun das Gute. Auf der anderen Seite heißt es Röm. 9.: „Nicht dem wollenden gehört das Wollen; und nicht dem laufenden das Laufen; sondern dem allerbarmenden Gotte.“ Und Augustinus sagt (de corr. et grat. 2.): „Ohne die Gnade thun die Menschen keinerlei Gutes, weder in Gedanken noch im Wollen, weder im Handeln noch im Lieben.“
b) Ich antworte, die Natur könne betrachtet werden entweder in ihrer Unversehrtheit, wie sie im Stammvater war; oder in ihrer Verderbtheit, wie sie in uns sich findet infolge der Sünde des Stammvaters. In beiden Fällen bedarf die menschliche Natur des göttlichen Beistandes, um etwas Gutes zu thun oder zu wollen, insofern sie von Gott den ersten Anstoß zur Thätigkeit erhält (vgl. Art. 1). Im Stande der Unversehrtheit aber konnte der Mensch vermittelst seiner natürlichen Kräfte thun und wollen das zu seiner Natur im gebührenden Verhältnisse stehende Gute, also das der erworbenen Tugend; nicht aber das seine Kräfte übersteigende Gute, das der eingegossenen Tugend entsprechende. Im Stande der verderbten Natur jedoch kann auch der Mensch nicht hinreichenderweise alles jenes Gute wollen oder thun, wozu seine natürlichen Kräfte genügen. Da nun die Natur durch die Sünde nicht ganz und gar verderbt ist, so kann der Mensch vermittelst der Kraft seiner Natur manches beschränkte Gute noch thun oder wollen, wie Häuser bauen, Weinberge pflanzen etc. So etwa kann der kranke Mensch wohl von sich selbst einigermaßen sich bewegen; aber nicht voll selbständig, wie ein gesunder Mensch, wenn ihm nicht der Beistand der Arznei hilft. In der unversehrten Natur also bedürfte der Mensch der zu seinen natürlichen Kräften hinzugefügten Gnadenkraft nur dazu, daß er das übernatürliche Gute wolle und thue; in der verderbten Natur aber dazu, daß er auf das Übernatürliche sich richte, d. h. verdienstliche Werke thue, und zugleich daß er geheilt werde. In beiden Fällen muß immerdar der erste Anstoß zur einzelnen Thätigkeit vom göttlichen Beistande ausgehen.
c) I. Auf Grund der vernünftigen Überlegung, welche auf den einen Teil oder auf den anderen entgegengesetzten sich richten kann, ist der Mensch Herr seiner Handlungen. Daß er aber überlegt oder nicht, darüber ist er wohl auch Herr, jedoch muß dies auf Grund eines vorhergehenden Überlegens sich vollziehen; und da man hier nicht bis ins Endlose vorgehen kann, so muß man schließlich dazu kommen, daß der freie Wille von einem ihm äußerlichen Princip in Bewegung gesetzt ist, nämlich von einem Princip über der Natur, von Gott. Nicht so hat also der Mensch, auch im Stande der Unversehrtheit, die Herrschaft über sich selbst, daß er nicht dessen bedürfte, von seiten Gottes in Thätigkeit gesetzt zu werden. II. „Sündigen“ heißt „abfallen“ vom Gute, was der betreffenden Natur entspricht. Wie also jedes Ding von sich aus zum Nichts sinkt, so sündigt es auch von sich allein aus. Soll es in dem seiner Natur zukömmlichen Guten bewahrt werden, so bedarf diese Natur des Beistandes von jenem, der ihr das Sein gegeben. III. Auch zur Erkenntnis des Wahren gehört der Beistand Gottes; und doch ist die menschliche Natur weniger verderbt durch die Sünde mit Rücksicht auf die Kenntnis des Wahren, wie mit Rücksicht auf das Verlangen, nach dem wahrhaft Guten.
