Dritter Artikel. Die natürlichen Kräfte des Menschen und die Liebe zu Gott über Alles.
a) Der Mensch kann kraft seiner Natur Gott nicht über Alles lieben. Denn: I. Gott über Alles lieben ist die eigenste und hauptsächlichste Thätigkeit der heiligen Liebe. „Die heilige Liebe aber ist ausgegossen in den Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben worden.“ (Röm. 5.) Also nicht von Natur kann der Mensch Gott über Alles lieben. II. Keine Natur kann über sich selbst hinaus. Das aber wird bedingt durch die Liebe zu Gott über Alles. III. Da Gott das höchste Gut ist, gebührt Ihm die höchste Liebe. Eine solche aber kann der Mensch nicht haben ohne den Beistand der göttlichen Gnade; die ja sonst unnütz wäre. Auf der anderen Seite war nach manchen der erste Mensch in den Verhältnissen der reinen Natur geschaffen, worin er ohne Zweifel in etwa Gott liebte. Nicht aber liebte er ihn weniger als sich selbst oder im selben Grade wie sich selbst; denn dies wäre Sünde gewesen. Also liebte er Ihn mehr als sich selbst; und somit über Alles.
b) Ich antworte, der Mensch habe gleichwie der Engel (I. Kap. 60, Art. 5) in der Unversehrtheit seiner Natur kraft derselben jenes Gute thun können, was zu seiner Natur im gebührenden Verhältnisse steht, ohne ein Hinzufügen einer unverdienten vollendenden Form in sich, wenn auch nicht ohne den Beistand Gottes als des in Thätigkeit Setzenden oder den Anstoß Gebenden. Gott aber lieben über Alles ist einer jeden Natur, nicht der vernünftigen allein, naturgemäß entsprechend in der Weise, welche einer jeden Natur zukommt. Der Grund davon ist, daß jegliches Wesen kraft seiner Natur liebt und erstrebt etwas, insoweit davon sein natürliches Sein abhängt, und gemäß der Beschaffenheit dieses Seins. Offenbar ist aber der Teil nur deshalb etwas Gutes, weil er im Ganzen ist und weil er wegen des Ganzen besteht. Also durchaus naturgemäß begehrt ein jedes beschränkte Ding das ihm entsprechende Gute auf Grund des Gemeinbesten des Ganzen, dessen Teil es ist. Dieses Gemeinbeste für alle Kreatur aber ist Gott; Weshalb auch Dionysius (4. de div. nom.) sagt: „Gott kehrt Alles zur Liebe seiner selbst.“ Also bezog der Mensch im Stande der Unversehrtheit die Liebe zu sich selbst auf Gott als auf den Zweck und ebenso die Liebe zu .allen anderen Dingen; und so liebte er Gott über Alles. Im Stande der verderbten Natur aber ermangelt dessen der Mensch; denn wegen seiner Verderbtheit folgt er dem Verlangen nach einem beschränkten Gute, wenn er nicht von Gott geheilt wird. Immer aber, in beiden Zuständen, bedürfte der Mensch des in Thätigkeit setzenden Beistandes Gottes.
c) I. Die Natur liebt Gott den Herrn über Alles, soweit Er Princip und Zweck der Natur ist; die heilige Liebe liebt Ihn, soweit Gott Gegenstand der Seligkeit ist und soweit der Mensch geistigerweise in Gemeinschaft steht mit Gott. Ebenso fügt die heilige Liebe zur natürlichen hinzu eine gewisse Bereitwilligkeit und Ergötzlichkeit; wie ja der betreffende Zustand dies immer zur bloßen äußeren Thätigkeit hinzufügt. II. Offenbar kann unsere natürliche Vernunft Gott erkennen, der ja über ihr steht; — so also wird dies nicht verstanden, daß keine Natur über sich selbst hinaus kann. Vielmehr ist dies dahin zu verstehen, daß keine Natur auf etwas sich richten kann mit einer ihre natürlichen Kräfte übersteigenden Anstrengung, also auf etwas, was zu ihr in keinem Verhältnisse steht. Gott aber lieben über Alles gehört dahin nicht; sondern ist in ent sprechender Weise jeder geschöpflichen Natur natürlich. III. Die Liebe wird als die höchste bezeichnet, nicht nur mit Rücksicht auf die Höhe dessen was geliebt wird und mit Rücksicht auf den Grad der Liebe; sondern auch mit Rücksicht auf den maßgebenden Grund und die Art und Weise der Liebe, und in letzterer Beziehung ist die höchste Liebe jene, welche sich auf Gott richtet, weil Er selig macht.
