Fünfter Artikel. Der Abscheu der Sünde wird erfordert zur Rechtfertigung des Sünders.
a) Dem ist nicht so. Denn: I. Die Liebe allein genügt, um die Sünden zu tilgen; nach Prov. 10. „bedeckt die Liebe ja alle Sünden.“ Der Gegenstand der Liebe ist aber nicht die Sünde. II. Phil. 3. heißt es: „Was hinter mir ist, vergesse ich und wende mich zu dem, was vor mir liegt; ich strebe nach dem bestimmten Zwecke, nach dem Lohne der Berufung für die Ewigkeit.“ Wer aber zur Gerechtigkeit sich wendet, hinter dem liegen die vergangenen Sünden. III. In der Rechtfertigung wird nicht die eine Sünde nachgelassen ohne die andere; denn „gottlos ist es, eine nur halbe Verzeihung von Gott zu erhoffen.“ (Cap. Sunt plures, dist. 3. de poen.) Müßte also der Sünder in der Rechtfertigung gegen die Sünde sich wenden, so müßte er dies thun gegen alle Sünden und somit an alle Sünden, die er begangen, thatsächlich denken, was unzulässig ist; sowohl weil dies lange Zeit erfordern würde als auch weil der Sünder für die Sünden, die er vergessen, keine Verzeihung erlangen könnte. Also ist ein thatsächlicher Abscheu der Sünde für die Rechtfertigung nicht erfordert. Auf der anderen Seite heißt es Ps. 31.: „Ich will bekennen gegen mich meine Ungerechtigkeit dem Herrn: und Du hast nachgelassen die Ruchlosigkeit meiner Sünden.“
b) Ich antworte, in der Rechtfertigung werde der menschliche Geist von seiten Gottes in Thätigkeit gesetzt vom Stande der Sünde aus zum Stande der Gerechtigkeit hin. Also verhält sich der menschliche Geist mit Rücksicht auf diese beiden Abschlußpunkte wie ein Körper sich zu den beiden Endpunkten in der Bewegung von Ort zu Ort verhält. Offenbar aber nähert sich ein Körper um so mehr dem Zielpunkte, je weiter er sich entfernt vom Ausgangspunkte. Also muß der Mensch bei der Rechtfertigung sich durch den Abscheu entfernen von der Sünde, will er sich der Gerechtigkeit nähern. Daß aber Abscheu und Sehnsucht für den Geist dasselbe ist wie „sich entfernen“ und „sich nähern“ für den Körper, sagt Augustin (tract. 46. in Joan.): „Unsere Hinneigungen sind die Bewegungen für unsere Seelen; die Freude ist ein Ausbreiten oder Ausgießen für die Seele; die Furcht ist das Fliehen der Seele; begehrst du, so gehst du voran mit der Seele; verabscheust du, so fliehst du mit der Seele.“
c) I. Zur nämlichen Tugend gehören die zwei entsprechenden Glieder eines Gegensatzes. Zur Liebe also gehört es: Gott lieben und die Sünde verabscheuen. II. Was hinter dem bekehrten Menschen liegt, dazu muß er nicht mehr zurückkehren durch die Liebe. Er muß sich dessen nicht erinnern, um es zu begehren; sondern um es zu verabscheuen. III. In der Zeit, welche der Rechtfertigung vorangeht, muß der Mensch verabscheuen jede einzelne Sünde, deren er gedenkt. Und daraus entsteht im Menschen eine gewisse Thätigkeit, kraft deren alle begangenen Sünden im allgemeinen verabscheut werden mit Einschluß jener, die er vergessen hat. Denn in diesem Zustande ist der Mensch in solcher Verfassung, daß er auch jene Sünden, die er vergessen, verabscheuen würde, wenn er sich deren erinnerte; und dieser Akt des Abscheues begleitet die Rechtfertigung.
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