Zehnter Artikel. Die Rechtfertigung des Sünders ist kein Wunder.
a) Dies scheint aber doch. Denn: I. Wunderwerke sind größer als solche, die nicht Wunderwerke sind. Die Rechtfertigung des Sünders aber ist das größte Werk. II. Wirkt Gott etwas im Bereiche der Natur gegen die natürliche Neigung in einem Dinge, so ist das ein Wunder; wie z. B. einen blindgeborenen erleuchten, einen toten erwecken. Der Wille aber strebt im Sünder von sich selbst aus nach dem Übel, wie die natürliche Neigung eines Dinges dieses zu etwas hintreibt. Wenn also Gott den sündigen Willen zum Guten wendet, so ist dies ein Wunder. III. Wie die Gerechtigkeit eine Gabe Gottes ist, so auch die Weisheit. Ein Wunder aber ist es, wenn jemand urplötzlich die Weisheit von Gott zum Geschenke erhält. Also ist dies auch mit der Gerechtigkeit der Fall. Auf der anderen Seite gehen Wunderwerke über das natürliche Vermögen hinaus. Die Rechtfertigung des Sünders aber geht nicht hinaus über das natürliche Vermögen. Denn Augustin sagt (de praed. sanctor. 5.): „Glauben haben können, Liebe haben können, gehört zur Natur des Menschen; thatsächlich den Glauben aber haben sowie thatsächlich die Liebe haben ist für die Gläubigen Gnade.“
b) Ich antworte, in den Wunderwerken sei 1. die Macht des Wirkenden zu betrachten. Denn nur von Gott können sie gewirkt werden, sie haben eine verborgene Ursache und sind danach wunderbar; und demgemäß kann die Erschaffung der Welt wie die Rechtfertigung des Sünders sowie überhaupt jedes Werk Gottes, das nur von Ihm allein geschehen kann, wunderbar genannt werden. Es kann 2. in den Wunderwerken betrachtet werden das natürliche Vermögen des betreffenden Stoffes; wie bei der Totenerweckung das Leben über dem natürlichen Vermögen eines solchen Körpers steht; — und danach ist die Rechtfertigung des Sünders nicht ein Wunder. Denn ihrer Natur nach ist die Seele fähig, die Gnade aufzunehmen; insofern daraus bereits daß sie nach dem Bilde Gottes gemacht ist folgt, daß sie fähig und vermögend ist für den Besitz Gottes durch die Gnade. (L. c. Aug.) Bei Wunderwerken ist 3. zu erwägen etwas, was dem gewöhnlichen Lauf der Natur nicht entspricht, wie z. B. wenn ein kranker plötzlich gesund wird, der sonst erst nach langer Zeit und mit Hilfe vieler Medizin gesund geworden wäre. Danach kann die Rechtfertigung des Sünders manchmal ein Wunder sein. Denn gewöhnlicherweise giebt Gott innerlich den Anstoß zur heilsamen Thätigkeit der Seele so, daß diese nach und nach vom Unvollkommenen zum Vollkommenen voranschreitet; weil „eine begonnene Liebe es verdient, vermehrt zu werden;“ sagt Augustin. (Tract. 5. in cap. Joan.) Bisweilen aber bestimmt Gott in so vollendeter Weise, daß allsogleich die Höhe der Vollkommenheit in der Gerechtigkeit erreicht wird; wie das bei Paulus der Fall war, weshalb die Kirche Pauli Bekehrung wie ein Wunderwerk festlich begeht.
c) I. Manche Werke Gottes sind geringer wie die Rechtfertigung des Sünders; aber sie geschehen außerhalb des gewöhnlichen Laufes der Natur und haben so mehr den Charakter des Wunderbaren. II. Nicht immer ist es ein Wunder, wenn ein Ding gegen seine natürliche Neigung in Bewegung gebracht wird; sonst wäre das Warm werden des Wassers ein Wunder. Vielmehr ist dies nur dann der Fall, wenn es geschieht außerhalb des ordentlichen Bereiches der eigens entsprechenden Ursache, die dazu von Natur geeignet ist. Rechtfertigen den Sünder aber kann nur Gott, wie warm machen nur das Feuer kann. Und deshalb ist nach dieser Seite hin die Rechtfertigung des Sünders von seiten Gottes kein Wunder. III. Die Weisheit und Wissenschaft zu erwerben; dazu ist der Mensch geeignet infolge eigener Mühe und eigenen Talentes. Wer also außerhalb des Bereiches dieser natürlichen Ursache Weisheit und Wissenschaft erlangt, der erlangt sie wunderbarerweise. Die rechtfertigende Gnade aber zu er langen, ist der Mensch von Natur aus nicht geeignet infolge eigener Mühe, sondern nur kraft des Beistandes Gottes; und so ist da kein Vergleich.
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