Sechster Artikel. Kein Mensch kann für den anderen die erste Gnade verdienen.
a) Das scheint wohl. Denn: I. Zu Matth. 9. (Videns Jesus fidem illorum) sagt die Glosse: „Wie viel gilt doch bei Gott der eigene Glaube, wenn der eines anderen so viel galt, daß Er innen und außen den Menschen heilte.“ Die innere Heilung aber geschieht durch die Gnade. II. Die Gebete der Gerechten sind nicht nutzlos, wie Jakobus sagt (c. ult.): „Viel vermag das Gebet des Gerechten, wenn es andauert.“ Es wird nun da vorausgeschickt: „Betet füreinander, daß ihr gerettet werdet.“ Die Rettung oder das Heil eines Menschen aber vollzieht sich nur durch die Gnade. III. Luk. 16. heißt es: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr sterbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.“ Nur aber kraft der Gnade wird jemand aufgenommen in die ewigen Wohnungen. Also kann ein Mensch für den anderen das ewige Leben und somit die Gnade verdienen. Auf der anderen Seite heißt es bei Jerem. 15.: „Wenn Moses und Samuel vor mir ständen; meine Seele ist nicht mit diesem Volke.“ Moses und Samuel hatten aber im höchsten Grade Verdienste vor Gott. Also kann keiner für den anderen die erste Gnade verdienen.
b) Ich antworte, unser gutes Werk habe den Charakter des Verdienstes: 1. kraft des Anstoßes zur Bewegung von seiten Gottes; und danach ist es vollauf wert des ewigen Lebens; — 2. insoweit es vom freien Willen ausgeht und wir also etwas gern thun; danach hat es den Charakter des zukömmlichen Verdienstes, denn es erscheint zukömmlich, daß, während der Mensch sich gut seiner Kraft bedient, Gott auch nach seiner einzig hervorragenden Kraft in überaus höherem Grade mitwirke. Daraus erhellt, wie mit gleichwertigem Verdienste, ex condigno, niemand für den anderen die erste Gnade verdienen kann, außer Christus allein. Denn ein jeder von uns wird von Gott vermittelst der Gnade in Bewegung gesetzt, daß er selber zum ewigen Leben gelange; weiter erstreckt sich, soweit die Gleichwertigkeit in Betracht kommt, dieser Anstoß nicht. Nur die Seele Christi ist von der Gottheit durch die Gnade in Thätigkeit gesetzt worden; nicht nur auf daß sie selber zur ewigen Herrlichkeit gelange, sondern auch dafür daß sie andere dahin führe, insoweit Christus das Haupt der Kirche ist und der Urheber des menschlichen Heiles, nach Hebr. 2.: „Der da viele Söhne in die Herrlichkeit eingeführt hatte, den Urheber des Heiles.“ Was aber das bloß Zukömmliche, ex congruo, anbelangt, so kann der eine für den anderen die erste Gnade verdienen. Denn weil der Mensch im Stande der Gnade den Willen Gottes erfüllt, ist es zukömmlich nach dem Verhältnisse der Freundschaft, daß Gott den Willen seines Knechtes zu gunsten des Heiles eines anderen thut. Freilich kann da immerhin ein Hindernis bestehen von seiten desjenigen, dessen Rechtfertigung der andere ersehnt; und davon spricht Jeremias l. c.
c) I. Der Glaube des einen ist für den anderen kein gleichwertiges Verdienst, ex condigno. II. Was das Gebet erfleht, stützt sich auf die Barmherzigkeit; das gleichwertige Verdienst stützt sich auf die Gerechtigkeit. Deshalb heißt es Dan. 9.: „Nicht weil wir es mit Recht fordern können, breiten wir unsere Bitten vor Deinem Antlitze aus, sondern vertrauend auf Deine zahlreichen Erbarmungen.“ III. Die Armen nehmen andere in die ewigen Hütten auf entweder weil sie durch Gebet für andere Gnade erlangen oder weil sie die Gnade für andere, — immer ex congruo, bloß in zukömmlicher Weise, — durch sonstiges Gute verdienen; oder auch weil die Werke der Barmherzigkeit selber an sich das ewige Leben verdienen.
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