Siebenter Artikel. Der Mensch kann im voraus nicht sich die Gnade nach seinem Falle verdienen.
a) Das Gegenteil geht aus folgenden Gründen hervor: I. Was gerechterweise von Gott erbeten wird, das scheint der Mensch von Gott verdienen zu können. Nichts aber wird in mehr gerechter Weise von Gott erbeten (nach Aug. enarr. I. in ps. 70, 9.), als daß der Mensch nach dem Falle aufgerichtet werde, nach Ps. 70.: „Wenn meine Kraft dahin schwindet, verlasse mich nicht, o Herr.“ Also kann das Gebet des Menschen nach dem Falle die Wiederaufrichtung verdienen. II. Der Mensch kann in gewisser Weise für andere die erste Gnade verdienen. Also kann er es auch für sich selber, nachdem er gefallen ist. Denn die Werke eines Menschen nützen ihm selber viel mehr als anderen. III. Wenn der Mensch vorher im Stande der Gnade war, so hat er durch die da vollbrachten guten Werke das ewige Leben verdient. Zum ewigen Leben aber kommt niemand, der nicht durch die Gnade nach dem Falle wiederaufgerichtet worden ist. Also hat er sich zugleich die Wiederaufrichtung durch die Gnade verdient. Auf der anderen Seite sagt Ezechiel 18.: „Wenn der Gerechte von seiner Gerechtigkeit sich abwendet und Gottloses thut… aller Gerechtigkeiten, die er gethan, werde ich mich nicht erinnern.“ Vorausgehende Verdienste also helfen dazu nichts, daß der Mensch wiederaufsteht. Also kann sich der Mensch nicht im voraus die Gnade verdienen, nach seinem zukünftigen Falle wiederaufzustehen.
b) Ich antworte; in keiner Weise kann sich der Mensch im voraus die Gnade verdienen, nach seinem etwaigen Falle wiederaufzustehen. Er kann es wohl kraft des gleichwertigen Verdienstes; denn der Grund für dieses Verdienst hängt vom Anstoße der göttlichen Gnade ab. Dieser aber wird eben unterbrochen durch die Sünde. Alle Wohlthaten also, welche nachher jemand von Gott empfängt, durch die er wiederaufgerichtet wird, fallen nicht unter das Verdienst, insofern sich der Anstoß, welcher von der früheren göttlichen Gnade ausgeht, darauf nicht erstreckt. Auch das zukömmliche Verdienst (das ex congruo) , kraft dessen jemand dem anderen Gnade verdient, wird in seiner Wirkung gehindert durch die Sünde in demjenigen, für den jemand verdient. Weit mehr also wird die Wirkung solchen Verdienstes gehindert durch die Sünde in jenem, der verdient und in jenem, für den er verdient; denn hier ist ja Beides in einer Person vereinigt. In keiner Weise also kann jemand sich selbst im voraus verdienen die Aufrichtung nach einem etwaigen Falle.
c) I. Das Verlangen, nach dem Falle wiederaufgerichtet zu werden, wird als gerecht bezeichnet; und ebenso das Gebet, womit jemand eine derartige Wiederaufrichtung erfleht, denn es richtet sich auf die Gerechtigkeit. Nicht aber stützt es sich auf die Gerechtigkeit, als ob es dieselbe verdient hätte; sondern aus Barmherzigkeit soll Gott die Seele wiederaufrichten. II. Verdient jemand in der Weise des Zukömmlichen dem anderen die erste Gnade, so besteht da, wenigstens von seiten des verdienenden, nicht das Hindernis der Sünde. III. Manche meinten, niemand verdiene anders die ewige Seligkeit als durch den Akt der End-Gnade; sonst nur unter der Bedingung, daß er beharre. Doch das ist Thorheit. Denn oft ist der Akt der letzten Gnade minder verdienstvoll, wie die vorhergehenden Akte, nämlich wegen der Last der Krankheit. Deshalb wird besser geantwortet: Jeder Akt der Liebe verdient das ewige Leben; aber die folgende Sünde bildet ein Hindernis, daß dieser Akt nicht seine Wirkung habe; wie ja auch die Ursachen im Bereiche der Natur ihrer Wirkungen bisweilen ermangeln infolge eines hinzutretenden Hindernisses.
