Zweiter Artikel. Niemand kann ohne Gnade das ewige Leben verdienen.
a) Das Gegenteil wird bewiesen; daß man nämlich kraft der Natur die Seligkeit gewinnt: I. Kraft der göttlichen Anordnung verdient jemand bei Gott; der Mensch aber ist kraft seiner Natur selbst bereits zur Seligkeit als zu seinem Zwecke hingeordnet. II. Je weniger ein Werk geschuldet ist, desto mehr ist es verdienstlich. Weniger geschuldet aber ist ein Werk von seiten desjenigen, der weniger Wohlthaten empfangen hat. Da also, wer nur Natürliches hat, weniger Wohlthaten von Gott empfing wie jener, dem Gnade verliehen worden, so ist sein Werk weniger geschuldet und somit mehr verdienstvoll. Also kann er um so eher das ewige Leben verdienen, wie der mit Gnaden ausgestattete. III. Der eine Mensch kann etwas verdienen vom anderen, wenn er auch niemals dessen Gunst oder Gnade gehabt. Also kann man um so mehr bei Gott verdienen, dem unendlich Barmherzigen, wenn man auch nie seine Gnade besessen. Auf der anderen Seite steht Röm. 6.: „Gnade Gottes ist das ewige Leben.“
b) Ich antworte: Ist die Rede vom rein natürlichen Stande des Menschen, vom Stande der Unversehrtheit, so kann infolge eines einzigen Grundes der Mensch nicht ohne Gnade das ewige Leben verdienen; weil nämlich das Verdienst des Menschen abhängt von der vorhergehenden Anordnung Gottes. Keine Thätigkeit aber eines irgendwelchen Wesens wird von Gott hingeordnet zu etwas, was jene Kraft weit übersteigt, welche das Princip der betreffenden Thätigkeit ist; denn das kommt von der Einrichtung der Dinge, wie sie Gott gegeben, her, daß nichts thätig ist über seine Kraft hinaus. Nun ist das ewige Leben ein gewisses Gut, welches die Verhältnisse der geschaffenen Natur übersteigt; übersteigt es doch selbst die natürliche Kenntnis und Begierde, nach 1. Kor. 2, 9.: „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört…, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben.“ Keine geschaffene Natur also ist ein genügendes Princip solcher Thätigkeit, die für das ewige Leben verdienstvoll ist; es sei denn daß ein übernatürliches Geschenk hinzutritt, nämlich die Gnade. Ist aber die Rede von der gefallenen Natur, so tritt zu diesem Grunde noch hinzu das Hindernis der Sünde. Denn da die Sünde ausschließt vom ewigen Leben, so kann niemand im Stande der Sünde das ewige Leben verdienen. Zuerst muß die Sünde hinweggenommen sein; und gerade dies geschieht kraft der Gnade. Dem Sünder gebührt der Tod und nicht das Leben, nach Röm. 6.: „Die Löhnung der Sünde ist der Tod.“
c) I. Gott hat die Natur des Menschen zum ewigen Leben hingeordnet; nicht aber so, daß diese Natur aus eigenen Kräften das ewige Leben erreichen könnte, sondern vermittelst der Gnade. II. Das würde richtig sein, wenn auf beiden Seiten Gleichheit in der Thätigkeit vorhanden wäre. Der Mensch aber ohne Gnade kann nicht ein Werk hervorbringen, das dem aus der Gnade folgenden gleichwertig wäre; denn je vollkommener das Princip der Thätigkeit, desto vollkommener die Thätigkeit. III. Der Mensch hat alle Kraft, um Wohlthaten zu erweisen, von Gott; nicht aber von einem anderen Menschen. Bei Gott also kann der Mensch nichts verdienen außer kraft dessen, was Gott ihm schenkt. Das drückt treffend der Apostel aus: „Wer hat Ihm, nämlich Gott, zuerst gegeben, daß ihm vergolten werde.“ Es ist also hier keine Ähnlichkeit, wie III. oben voraussetzt; außer etwa soweit es auf das Hindernis der Sünde ankommt. Denn auch unter den Menschen verdient der eine nichts beim anderen, den er früher beleidigt, wenn er nicht zuvor sich mit ihm aussöhnt und so von ihm zuvor Verzeihung erhält.
