Vierter Artikel. Die Gabe des Verständnisses haben alle, die im Stande der Gnade sind.
a) Dagegen spricht: I. Gregor (2. moral. 26.) schreibt: „Die Gabe des Verständnisses wird gegeben gegen die Stumpfheit des Geistes.“ Viele aber, die im Stande der Gnade sind, leiden noch an Stumpfheit des Geistes. II. Von dem, was zur Kenntnis gehört, ist einzig der Glaube zum Heile notwendig; denn „durch den Glauben wohnt Christus in uns“ Ephes. 5. Nicht alle aber, die den Glauben haben, besitzen die Gabe des Verständnisses; vielmehr müssen nach Augustin (15. de Trin. 27.), die den Glauben haben, beten, damit sie verstehen. Also ist die Gabe des Verständnisses nicht zum Heile notwendig. III. Was allen innewohnt, die im Stande der Gnade sind, wird ihnen niemals entzogen. Die Gabe des Verständnisses und andere Gaben des heiligen Geistes aber werden bisweilen mit Nutzen entzogen. Denn „manchmal, wenn der Geist auf Grund des Verständnisses erhabener Dinge sich zum Hochmut erhebt, wird er träge und stumpf selbst in den niedrigsten und wertlosesten Dingen;“ sagt Gregor (2. moral. 26.) Auf der anderen Seite heißt es Ps. 81.: „Sie wußten und verstanden es nicht; in Finsternissen wandeln sie.“ Keiner aber, der im Stande der Gnade ist, wandelt in Finsternissen, nach Joh. 8.: „Wer mir folgt, wandelt nicht in Finsternissen.“
b) Ich antworte, alle, die im Stande der Gnade sind, müssen die Geradheit des Willens haben, weil durch die Gnade der Wille des Menschen vorbereitet wird zum Guten, nach Augustin (de praed. sauct. 1.; retr. 1, 22.) Der Wille aber kann nur auf Grund irgend welcher Kenntnis der Wahrheit in der rechten Weise zum Guten hingeordnet werden; denn der Gegenstand des Willens ist das von der Vernunft aufgefaßte Gut. Wie aber durch die Gnadengabe der Liebe der heilige Geist den Willen regelt, daß er unmittelbar hingeordnet sei zum übernatürlichen Gute, so erleuchtet Er durch die Gabe des Verständnisses den menschlichen Geist, daß dieser eine übernatürliche Wahrheit erkenne, nach deren Richtschnur der Wille seinen Gegenstand erstreben soll. Wie also die Gnadengabe der heiligen Liebe in allen ist, welche im Stande der Gnade sind, so auch die Gabe des Verständnisses.
c) I. Die im Stande der Gnade sind, können an Stumpfheit des Geistes leiden mit Rücksicht auf Manches, was nicht zum Heile notwendig ist. Mit Beziehung auf das zum Heile Notwendige aber werden sie vom heiligen Geiste belehrt, nach 1. Joh. 27.: „Die Salbung des heiligen Geistes belehrt euch über Alles.“ II. Nicht alle, die Glauben haben, verstehen in vollkommener Weise das, was zu glauben vorgestellt wird; sie verstehen aber, daß es zu glauben sei und daß man davon nicht abweichen dürfe. III. Mit Rücksicht auf das zum Heile Notwendige wird den Heiligen nie die Gabe des Verständnisses genommen; wohl aber mit Rücksicht auf Anderes, damit von ihnen der Anlaß fern bleibe, hochmütig zu werden.
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