Fünfter Artikel. Keiner, der nicht im Stande der Gnade ist, hat die Gabe des Verständnisses.
a) Das Gegenteil scheint zu meinen: I. Augustin, denn zu Ps. 118. (concupivit anima mea desiderare) sagt er: „Es fliegt voran das Verständnis; und langsam oft kommt nach die schwächliche Hinneigung im Menschen.“ In allen aber, welche im Stande der Gnade sind, ist auf Grund der Liebe Bereitwilligkeit im Willen für das göttliche Gute; somit ist da keine schwächliche Hinneigung und demnach haben sie Verständnis ohne Gnade. II. Daniel, der Prophet (10.), der da sagt: „Des Verständnisses bedarf man im (prophetischen) Gesicht.“ Die Gabe der Weissagung kann aber bestehen ohne die heiligmachende Gnade. Denn Matth. 7. wird denen, welche sprechen: „In Deinem Namen haben wir geweissagt“ geantwortet: „Ich kenne euch nicht.“ Also kann die Gabe des Verständnisses bestehen, auch ohne die Gnade. III. Die Gabe des Verständnisses entspricht der Tugend des Glaubens, nach Isai. 7.: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht verstehen.“ Der Glaube aber braucht nicht notwendig mit der Gnade verbunden zu sein. Auf der anderen Seite spricht der Herr bei Joh. 6.: „Ein Jeder, der vom Vater gehört und gelernt hat, kommt zu mir.“ Durch das Verständnis aber lernen wir und durchdringen wir das Gehörte. (Gregor 1. moral. 15.) Wer also die Gabe des Verständnisses hat, kommt zu Christo, was ohne die heiligmachende Gnade nicht angeht.
b) Ich antworte, die Gaben des heiligen Geistes vollenden die Seele (I., II. Kap. 68, Art. 1 u. 2), damit diese leicht in Thätigkeit zu setzen sei von seiten des heiligen Geistes. So wird also das Licht der Vernunft als die Gabe des Verständnisses aufgefaßt, daß dadurch die Vernunft leicht beweglich werde für den Anstoß, der vom heiligen Geiste ausgeht. Solche Thätigkeit oder Bewegung der Vernunft aber wird nur gedacht mit Rücksicht auf die Erfassung jener Wahrheit, welche auf den letzten Endzweck sich richtet. Wenn also die menschliche Vernunft nicht bis zu dem Punkte von seiten des heiligen Geistes in Thätigkeit gesetzt wird, daß sie die rechte Wertschätzung des letzten Endzweckes sich aneignet, so hat sie noch nicht die Gabe des Verständnisses erlangt; mag sie auch mit Hilfe des heiligen Geistes andere vorbereitende Wahrheiten erfassen. Eine rechte Wertschätzung des vorliegenden Zweckes nun hat allein jener, der sich rücksichtlich des Zweckes nicht täuscht, sondern demselben fest anhängt; und das geschieht, wenn der letzte Endzweck in Betracht kommt, einzig und allein kraft der heiligmachenden Gnade. Ohne Gnade also kann die Gabe des Verständnisses nicht bestehen.
c) I. Augustin spricht von einer irgend beliebigen Erleuchtung der Vernunft, welche jedoch die Höhe der Gabe des Verständnisses nicht erreicht. II. Das prophetische Licht an sich betrifft nicht die rechte Wertschätzung des letzten Endzweckes, sondern nur das, was dem Propheten geoffenbart wird. Einzig in der erstgenannten Erleuchtung aber besteht die Gabe des, Verständnisses. III. Der Glaube schließt bloß die Zustimmung ein; die Gabe des Verständnisses aber besagt ein Durchdringen der Wahrheit bis zum Endzwecke hin, was nur in Begleitung der Gnade statthat.
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