Achter Artikel. Verdienstvoller ist es, Gott zu lieben wie den Nächsten.
a) Dies scheint falsch. Denn: I. Der Apostel sagt (Röm. 9.): „Ich habe erwählt, von Christo getrennt zu sein für meine Brüder.“ Nach dem Beispiele des Apostels also ist die Nächstenliebe verdienstvoller wie die Gottesliebe. II. Es giebt eine Weise, wo es minder verdienstvoll sein kann, einen Freund zu lieben; Gott aber ist unser größter Freund, „der uns zuerst geliebt hat,“ (1. Joh. 4.) III. Leichter ist es, Gott zu lieben, wie den Nächsten. Denn Alles liebt bereits von Natur Gott; und nichts tritt in Gott uns entgegen, was nicht liebwert sei, was beim Nächsten nicht der Fall ist. Verdienstvoller aber ist, was schwieriger ist. Auf der anderen Seite ist die Nächstenliebe nur verdienstlich auf Grund der Liebe zu Gott. Also ist mehr verdienstlich die Liebe zu Gott als der Zweck und als der maßgebende Grund der Nächstenliebe.
b) Ich antworte, wird die Liebe Gottes für sich betrachtet und ebenso die Liebe des Nächsten, so sei offenbar die Liebe Gottes verdienstvoller; denn ihr gebührt um ihrer selbst willen der Lohn, nach Joh. 14.: „Wer mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden … und ich werde mich ihm offenbar machen.“ Wird die Liebe zu Gott aber betrachtet, insoweit Gott allein geliebt wird, und die Liebe des Nächsten, insoweit der Nächste wegen Gott geliebt wird; so schließt die Liebe des Nächsten in sich ein die Liebe Gottes, nicht aber umgekehrt. Und so wird da der Vergleich sein zwischen der vollendeten Liebe Gottes, die sich auch auf den Nächsten erstreckt, und der Liebe Gottes als einer unvollkommenen und unzureichenden. Denn „dieses Gebot haben wir von Gott, daß wer Gott liebt auch seinen Bruder liebe.“ (1. Joh. 4.)
c) I. Nach den einen hätte der Apostel dies nicht gewünscht als er im Stande der Gnade war; sondern als er noch im Unglauben sich befand. Oder nach Chrysostomus (hom. 16. in ep. ad Rom.) zeigte dadurch der Apostel nicht, daß er den Nächsten mehr liebte als Gott, sondern daß er Gott mehr liebte wie sich selbst. Denn er wollte für eine gegebene Zeit sogar der Anschauung Gottes ermangeln, die zur Liebe zu sich selbst gehört; damit nur Gottes Ehre befördert werde in den Nächsten. II. Die Freundschaft ist deshalb manchmal minder verdienstvoll, weil der Freund nicht rein wegen Gott geliebt wird. Daß aber Gott wegen Seiner selbst geliebt wird; das vermindert nicht das Verdienst, sondern ist dessen ganzer Grund. III. Mehr gehört zum Wesen der Tugend das „Gute“ wie das „Schwierige“. Also ist das Schwierigere dann verdienstvoller, wenn es zu gleich besser ist.
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