Fünfter Artikel. Der Haß ist keine Hauptsünde.
a) Dies scheint aber: I. Der Haß steht direkt gegenüber der Liebe. Die Liebe ist jedoch die Mutter aller Tugenden. II. Die Sünden kommen in uns von der Hinneigung der Leidenschaften, nach Röm. 7, 5. Aus den Leidenschaften aber der Liebe und des Hasses folgen alle anderen. (I, II. K. 25.) III. Die Sünde ist ein moralisches Übel. Der Haß aber berücksichtigt das Übel an erster Stelle unter den Leidenschaften. Also ist der Haß eine Hauptsünde. Auf der anderen Seite zählt Gregor (21. moral. 17.) den Haß nicht unter den sieben Hauptsünden auf.
b) Ich antworte, Hauptsünde nenne man eine Sünde, weil aus ihr in den meisten Fällen wie von einer Quelle aus die anderen Sünden entstehen. Die Sünde nun ist gegen die Natur des Menschen, insofern er ein vernünftiges Wesen ist. In dem aber, was gegen die Natur geschieht, wird nach und nach das, was der Natur angehört, verdorben. Zuerst also weicht man von dem ab, was minder gegen die Natur ist; und zuletzt von dem, was im höchsten Grade gegen die Natur ist. Was das Erste im Aufbauen ist, das ist das Letzte im Niederreißen. Was nun an erster leitender Stelle dem Menschen natürlich ist, das besteht darin, daß er das Gute liebt, und zumal das göttliche Gut und das was für den Mitmenschen ein Gut ist. Der Haß also, welcher dieser Tugend entgegensteht, ist nicht das Erste im Niederreißen der Tugend oder im Auflösen, was der Sünde eigen ist, sondern das Letzte und somit ist er keine Hauptsünde.
c) I. In den Tugenden muß das Erste und Hauptsächliche das sein, was das Erste und Hauptsächliche ist in der Ordnung der Natur. Denn „die Kraft eines jeden Dinges besteht darin, daß es in guter Verfassung ist gemäß seiner Natur.“ (7 Physic.) Deshalb ist die Liebe die hauptsächlichste oder der Anfang der Tugenden; und aus demselben Grunde kann der Haß nicht den Anfang im Bereiche der Sünde ausmachen. II. Der Haß gegenüber dem Übel, was der eigenen Natur widerstreitet, ist die erste unter den Leidenschaften der Seele, wie auch dem entsprechend die Liebe zu dem der eigenen Natur entsprechenden Guten. Der Haß aber des Guten, was der eigenen Natur zukommt, kann nicht den Charakter des Ersten, des Anfanges haben, sondern den des Letzten vielmehr; denn ein solcher Haß giebt Zeugnis von der bereits verdorbenen Natur. Also ist er keine Hauptsünde oder keine Quelle von Sünden. III. Das Übel ist entweder ein wahres, was nämlich dem natürlichen Guten entgegensieht; und der Haß eines solchen Übels kann den Vorrang haben unter den Leidenschaften; — oder es ist ein Scheinübel, was nämlich in der Wirklichkeit ein wahres Gut ist und auf Grund der Verderbtheit der Natur als Übel aufgefaßt wird; und der Haß eines solchen Übels muß immer die letzte Stelle innehalten. Dieser letztere Haß nur ist Sünde.
